Moby: Musik für den inneren Flughafen
Der Rave-Veteran Moby arrangiert seine Hits für Orchester. Sein neues Album, «Reprise», ist akustisches Valium, stellt aber eine alte Frage, die auf Spotify und Co. wieder aktuell ist: Kann Liftmusik Kunst sein?
Moby ist ein schwieriger Fall. Obwohl der US-amerikanische Superstar bereits zwei Bände mit Memoiren veröffentlicht hat und ab Ende Juli auch im Film «Moby Doc» über seinen Schmerzensweg spricht – über Drogen im Elternhaus bis zum Weltruhm, noch mehr Drogen und die Läuterung durch Glaube, Entzug und Veganismus –, obwohl das Leiden eines weissen mittelalten Multimillionärs nur mittel interessant erscheint, könnte alles viel schlimmer sein. Denn gemessen an seiner Berühmtheit stellt der 55-jährige Richard Melville Hall, genannt Moby, ein feines Männermodell dar. Zudem setzt er sich für Tierrechte ein und klingt in Interviews manchmal sogar vernünftig. Aber er macht eben auch Musik.
Sein neues Album heisst «Reprise» und ist eine Art Best of, aber mit Orchester. Die Rockgeschichte kennt dieses Grauen, wenn klassische Klangkörper die Sounds von grobkörnigen Verstärkern für den Konzertsaal fein schleifen, bis nur der nackte Kunstwille übrig bleibt. Doch die Geigen können den Stallgeruch nie ganz wegparfümieren. Mobys Musik dünstete schon vor der Orchestertherapie nie stark aus. Nach dem gefährlichen Leben, von dem er nun so viel erzählt, klang seine Musik nie. Mobys Hits handelten von der Unterdrückung innerer Konflikte. Es gibt also nichts, was die Geigen abschleifen könnten. Und deshalb klingt «Reprise» etwas redundant, wie ein Moby-Album halt.
Kein Entkommen
Moby macht es einem auch musikalisch nicht leicht, selbst wenn sein Sound seit dreissig Jahren so klingt: easy. Schon sein erster Hit von 1991, «Go», provozierte die Frage: Ist das noch Dance Music oder schon Muzak, Hintergrundmusik für Möbelhäuser? Der Beat und das Piano kamen aus der jungen Housekultur, die warmen Synthieflächen und die kurzen Soulsamples Schwarzer Stimmen wirkten wie ein Beruhigungsmittel. «Yeah», «alright», die Technokinder wollen doch nur kuscheln und vor dem Fernseher runterkommen. Tatsächlich baute Moby «Go» um ein Streichersample aus dem Soundtrack der TV-Serie «Twin Peaks», Regisseur David Lynch wurde ein Fan der ersten Stunde. Rave klang jetzt wie eine Inneneinrichtung.
Für sein Meisteralbum, «Play» (1999), benutzte Moby die Archive von Alan Lomax, der in den dreissiger und vierziger Jahren im Süden der USA Blues und Folk aufnahm. «Porcelain», «Why Does My Heart Feel So Bad» und besonders «Natural Blues» verschmolzen die beliebten Big Beats am Ende der Dekade wieder mit Schwarzen Stimmen. Es war unmöglich, dieser Musik zu entkommen, beim Einkaufen und als Weg des geringsten Widerstands in WGs. Die rückwärts laufenden Tapes auf «Porcelain», das Pianogeklimper in Moll, eine Stimme wie von einem andern Planeten: Es klang futuristisch und zugleich zutiefst vertraut. Kein Wunder, fuhr die Autowerbung auf diese Musik ab, die Kreuzung von Technologie und Wohnzimmer bestimmt ihren Kern. Nissan bewarb das Modell «Xterra» mit dem Track, Renault zeigte den «Mégane» auf dem Mond zu Mobys «Porcelain».
Auf dem neuen Orchesteralbum ist «Porcelain» etwas langsamer, als gäbe es noch eine tiefere Wahrheit herauszuhören. Die SängerInnen Gregory Porter und Amythyst Kiah verwandeln den Geistersong «Natural Blues» in ein Schmerzenslied im breiten Kinoformat. Vom Futurismus bleibt nicht mehr viel. Oder sind Lagerfeuerklampfen und Streicher die kuschelige Zukunft, wenn die Seuche einmal vorbei ist? Schon jetzt herrscht ja Konjunktur der Beruhigungsmusik, wenn wir im Homeoffice vor dem Rechner ADHS entwickeln, aber nirgends hinkönnen mit der Unruhe. Der innere Flughafen muss gegroundet werden.
Entnervt vom Chaos
Das furchtbarste Lied auf «Reprise» weist aber in die Richtung, aus der diese Stimmungsmusik kommt, und zeigt, wie dünn der Grat zwischen kritischer Adelung und fast körperlicher Abscheu ist. Mobys Sängerin Mindy Jones säuselt tatsächlich «Heroes» (1977) von David Bowie, das verbotenste – weil zu Tode gecoverte – Lied der letzten fünfzig Jahre. Aber genau «Heroes» legt den Finger an die richtige Stelle. Hinter dem Original steht der englische Produzent Brian Eno, der den Rockstar Bowie in Berlin in einen Avantgardisten verwandelte. Eno liebte die US-amerikanische Minimal Music von Terry Riley und Philip Glass, ihre wiederholenden Strukturen und kleinen Verschiebungen. Und obwohl Eno nach seiner Zeit bei den Kunstrockern von Roxy Music schon eigene meditative Alben aufgenommen hat, benutzt er den so einflussreichen Begriff erst 1978: «Ambient 1: Music for Airports», der Klassiker eines ganzen Genres.
Brian Eno war entnervt vom akustischen Chaos während einer längeren Wartezeit auf dem Flughafen Köln/Bonn, als er die Idee zu Ambient hatte. Könnte man Musik komponieren, die interessant ist, die man aber gleichzeitig ignorieren kann? «Music for Airports» spielte in erster Linie mit Pianoloops und verlangsamten Tonbändern, die zum Teil haarscharf übereinander geklebt wurden. Alles fliesst, aber immer etwas anders. Enos Konzeptmusik setzte sich in der Folge weniger auf Flughäfen als in den Ruheräumen von Technoklubs durch. Irgendwann sind diese Chillouträume verschwunden, weil die Klubs sich die Miete nicht mehr leisten konnten, um Platz für herumliegende, kaum konsumierende Gäste zu verschwenden. Moby hat in den letzten Jahren Alben gemacht, die alle «Ambient» im Titel tragen.
Doch der eigentliche Vorläufer von Musik als interessanter Tapete ist der französische Komponist Erik Satie. Fünf kurze Stücke zwischen 1917 und 1923 heissen «Musique d’ameublement», Einrichtungsmusik. Satie ging es darum, die klaren Formen seiner Zeit musikalisch abzubilden: Tapeten, Fliesen, ein modernes Chefbüro. Entsprechend eckig und repetitiv sind diese Stücke gebaut, sie gelten bis heute als Ahnen der Minimal Music. Doch wo bei Satie nebst der Freude an der formalen Spielerei auch Ironie und Kritik anklingen, fallen solche Widerstände im Verlauf des Jahrhunderts weg.
Völlig ausgelöscht sind diese Widerstände bei der Musik der Firma Muzak. Diese wird 1934 gegründet und verkauft Hintergrundmusik auf grossen Tonbandrollen für Geschäfte. Längst steht der Firmenname stellvertretend abwertend für Liftmusik. Doch was ist der Unterschied zwischen Satie, Muzak, Brian Eno und Moby? Warum stehen Satie und Eno im Olymp des guten Geschmacks, und Muzak wie Moby müssen in der Hölle schmoren, zumindest wenn es nach den meisten KritikerInnen ginge?
Besonders toll aus Kopfhörern
Einen Hinweis finden wir in der Muzak-Historie. 2011 wurde das Unternehmen von einer andern Firma mit dem sprechenden Namen Mood Music übernommen. Das ist genau das, was Streamingplattformen wie Spotify und Co. gross gemacht hat: die «mood based playlists», die Listen, die Musik in Funktionen und Stimmungen packen. Musik fürs Frühstück, für den Work-out, zur Arbeit, zum Kerzenlicht und zum Einschlafen. Spotifys profitabelste Listen wirken wie der Sieg von Erik Satie mit hundertjähriger Verspätung: Musik als Inneneinrichtung – aber der Psyche.
Den direktesten Weg zum Innenleben findet Musik über den Kopfhörer, das bevorzugte Gerät für Streaming. In vielen Texten über Moby wird seit Jahrzehnten gerühmt, wie toll seine Musik gerade über Kopfhörer klinge. Spotify wie Moby sind besonders gut darin, die innere Unruhe auszubalancieren. Satie und Eno meinten mit «ameublement» und «Ambient» aber nicht Musik für innere, sondern äussere, also tatsächliche Räume.
Womit der Abstand zu Moby und Muzak klar wird: Dazwischen liegt nichts weniger als der Unterschied zwischen innen und aussen, zwischen dem Persönlichen und dem Sozialen.
In der Schweiz ist der Dokumentarfilm «Moby Doc» ab dem 30. Juli 2021 auf Apple TV zu sehen.
Moby: Reprise. Deutsche Grammophon / Universal. 2021