Philippinen: Die subversive Kraft des Teilens

Nr. 24 –

Die Philippinen haben den vermutlich härtesten Lockdown der Welt. Der Präsident Rodrigo Duterte führt aber lieber einen antikommunistischen Feldzug, statt die Pandemie und die wirtschaftliche Not im Land zu bekämpfen.

Ana Patricia Non (im blauen T-Shirt) bereitet mit HelferInnen ihre Community Pantry vor. Hinten stehen Menschen, die KommunistInnen sein mögen, aber auf jeden Fall hungrig sind. Foto: Aaron Favila, Keystone

Es war ein gewöhnlicher Mittwochmorgen, an dem Ana Patricia Non Geschichte schreiben sollte. Ein Tag, der so zu verlaufen schien wie alle anderen vorangegangenen 450 tristen Tage auch – inmitten des weltweit vermutlich härtesten und längsten Lockdowns. An jenem Morgen Mitte April verliess Ana Patricia Non ihre Wohnung in der Maginhawa Street in Quezon City, die Teil der Metropolregion Manila ist und zur sogenannten National Capital Region gehört. Ein Moloch mit – zumindest tagsüber – rund 14 Millionen EinwohnerInnen.

Die 26-jährige Frau bugsierte einen kleinen Bambuswagen auf das Trottoir nahe ihrer Wohnung und bestückte ihn mit Gemüse, Reis- und Nudelpackungen, Konserven und Wasserflaschen. Sie hatte ein handgeschriebenes Pappschild mitgebracht, auf dem in grossen Lettern «Maginhawa Community Pantry» geschrieben stand. Darunter war in Filipino, der Amtssprache der Philippinen, die Anweisung gekritzelt: «Gib nach deinen Möglichkeiten, nimm nach deinem Bedarf.»

«Pantry» bedeutet «Speisekammer» auf Englisch. In der Maginhawa Street wurde das Wort über Nacht umgedeutet. Es steht seither für einfache, in Eigenregie gefertigte Stände, an denen die BetreiberInnen Lebensmittel kostenlos an bedürftige und hungernde Menschen verteilen. Ein Hoffnungsfunken, der rasch landesweit übersprang und zu einem sozialen Phänomen geworden ist. Mittlerweile existieren Hunderte solche Community Pantries auf den philippinschen Inseln.

Miserables Krisenmanagement

Für die Regierung kommt das einer schallenden Ohrfeige gleich. Tatsächlich durchläuft das Land seine tiefste wirtschaftspolitische Krise seit der Staatsgründung am 4. Juli 1946. Immer mehr Menschen im 108 Millionen EinwohnerInnen zählenden Inselstaat hungern, weil die Coronapandemie neben einem rasanten Anstieg von Arbeitslosigkeit und Unterbeschäftigung auch zu einem Rückgang des Bruttoinlandsprodukts um knapp zehn Prozent gegenüber dem Vorjahr führte. Kein anderes Land in der Region Ostasien/Westpazifik weist eine ähnlich desaströse wirtschaftliche Entwicklung auf.

Finanzanalysten wie Capital Economics und Moody’s Analytics sowie die Weltbank und die in Manila beheimatete Asiatische Entwicklungsbank schätzen in ihren aktuellen Lageberichten die Coronasituation als «katastrophal» ein. «Die mangelnde Kontrolle der Pandemie, die Unfähigkeit, Impfstoffe zu beschaffen, und die relative Entfernung von den Exportlieferketten tragen dazu bei, dass die Philippinen zu den mit Abstand schwächsten Ländern der Region gehören», konstatierte beispielsweise Moody’s Analytics.

Korruption im Gesundheitssektor und die Bereitstellung von lediglich 117 Milliarden Peso (umgerechnet 2,2 Milliarden Franken) für die Pandemiebekämpfung – im Vergleich zu vorgesehenen 1,1 Billionen Peso (beinahe 21 Milliarden Franken) für ehrgeizige Infrastrukturvorhaben – offenbaren zudem eine falsche Prioritätensetzung des Regimes. Gerade einmal vier Prozent des laufenden Staatsbudgets sind für die Bekämpfung von Covid-19 vorgesehen. Und nur 1,4 Prozent der Bevölkerung sind bis dato geimpft.

Lauffeuer mit «Brandschutz»

So rasch die Community Pantries Resonanz fanden, so reflexartig und knallhart erfolgte die Reaktion der staatlichen Sicherheitskräfte: Ana Patricia Non und ihre MitstreiterInnen wurden umgehend eingeschüchtert, schikaniert und gezwungen, ihre Aktionen für einige Tage einzustellen. Derweil kaperten und instrumentalisierten die Sicherheitsbehörden ihre Idee. So entstanden etwa im Norden der grössten südlichen Insel Mindanao auf Anweisung des Büros der Nationalpolizei eigene Nahrungsmittelstände, um so die «Herzen und Hirne der Bevölkerung» für sich zu gewinnen.

An vorderster Front des Repressionsapparats steht Generalleutnant Antonio Parlade Jr., der Ende April gegenüber dem Lokalsender One News erklärte: «Das ist nur eine Person, Ana Patricia, richtig? Mit Satan war es genau dasselbe. Satan gab Eva einen Apfel. Da hat alles angefangen.» Er beziehe sich nicht auf Ana Patricia Non, fügte Parlade hinzu, «ich beziehe mich auf die grosse Organisation, die vielleicht hinter all dem steckt. Wieso wurden die Community Pantries plötzlich aus dem Boden gestampft? Warum haben sie nur ein einziges Thema?»

Für Parlade stand sofort fest, dass die Community Pantries «kommunistisches Teufelswerk» sind, gesteuert aus dem politischen Untergrund. Sämtliche Regierungen in Manila seit der Ära des Diktators Ferdinand Marcos (1965–1986) verfolgten das Ziel, die Ende der sechziger Jahre gegründete Kommunistische Partei der Philippinen und deren Guerillaorganisation in Gestalt der «Neuen Volksarmee» aufzureiben. Um diesen virulenten Konflikt, den am längsten andauernden in ganz Südostasien, zu beenden, unterzeichnete der aktuelle philippinische Präsident Rodrigo Duterte am 4. Dezember 2018 die Exekutivorder 70. Damit gilt fortan die Aufstandsbekämpfung als «gesamtnationale Aufgabe». Der eigens zu diesem Zweck gebildeten «Nationalen Taskforce zur Beendigung des lokalen kommunistischen bewaffneten Konflikts» obliegt es, die staatliche Strategie zur Aufstandsbekämpfung bis zum Ende der Amtszeit Dutertes am 30. Juni 2022 erfolgreich umzusetzen – koste es, was es wolle. Geleitet wird die Taskforce von hochrangigen Militärs und ehemaligen Generalstabschefs mit Duterte als Vorsitzendem und dem erwähnten General Parlade als Hauptsprecher.

Parlade ist überdies auch Oberbefehlshaber des Südluzon-Kommandos der Streitkräfte, das in den südlich der Hauptstadt Manila gelegenen Provinzen für die Aufstandsbekämpfung verantwortlich ist. Dort ist vor allem seit Jahresbeginn eine systematische Hatz auf fortschrittliche Gewerkschafterinnen, Arbeiter- und Bauernführer, Fischer sowie kritische Studentinnen, Kirchenleute und Umweltschützer im Gang. Allein am 7. März, landesweit als «Blutsonntag» bekannt, wurden im Grossraum Manila neun SozialaktivistInnen erschossen und sechs weitere unter fadenscheinigen Begründungen verhaftet. Sie sind allesamt Opfer des «Red-Tagging», der Brandmarkung als «terroristische KommunistInnen», was zum Markenzeichen der Streitkräfte unter Parlade geworden ist.

Edre U. Olalia, Menschenrechtsanwalt und Präsident der Nationalunion der philippinischen Volksanwälte, sagt gegenüber der WOZ: «Das Perfide daran ist, dass kritische und sozial engagierte Menschen durch das Red-Tagging in akute Lebensgefahr gebracht werden; sie sind quasi zum Abschuss freigegeben.» Gleichzeitig verschwinde jedwede Unterscheidung zwischen im Untergrund agierenden KombattantInnen der Neuen Volksarmee und sich friedlich für soziale Belange einsetzenden ZivilistInnen.

Während Dutertes Amtszeit wurden laut Angaben der Menschenrechtsorganisation Free Legal Assistance Group 61 Anwältinnen, Staatsanwälte und Richterinnen getötet. Das sind mehr als alle registrierten tödlichen Angriffe auf AnwältInnen in den letzten fünfzig Jahren unter sechs vorherigen PräsidentInnen. All das geschieht in einem Klima von Straffreiheit und im Zangengriff des am 3. Juli 2020 verabschiedeten Antiterrorgesetzes. Dessen Ausführungsbestimmungen installieren faktisch ein Kriegsrecht. Demnach kann jede Person, die des «Terrorismus» verdächtigt wird, für 24 Tage weggesperrt werden – ohne Rechtsbeistand und Anklageerhebung. Als «TerroristIn» gilt bereits, wer öffentlich Dissens äussert, Handlungen des Regimes kritisiert oder wem es, wie Menschenrechtsanwalt Olalia kritisiert, «an staatskonformer Gesinnung mangelt».

Bezeichnend ist denn auch der Umgang mit jenen, die gegen Quarantänebestimmungen verstossen. Bereits im Frühjahr 2020, als der bis heute andauernde Lockdown begann, richtete Duterte die folgenden Worte an «seine Soldaten» und «seine Polizisten»: «Ich werde nicht zögern. Meine Order an die Polizei und das Militär lautet: Diejenigen, die Chaos stiften und Gegenwehr leisten – schiesst sie tot!» Diesen Appell wiederholte der Präsident in diesem Frühjahr – mit dem Zusatz, «Menschenrechte zu ignorieren»; notfalls werde er persönlich die Konsequenzen dafür tragen.

Macht und Pfründe im Vorwahlkampf

Die antikommunistischen Rundumschläge von General Parlade machten in den letzten Wochen selbst vor Kongressabgeordneten, bekannten SchauspielerInnen und sogar Senatsangestellten nicht halt. Und als Ende April Rufe lauter wurden, die kumulierte Summe von annähernd 25 Milliarden Peso (knapp 500 Millionen Franken) aus dem diesjährigen Budget der Taskforce zur Aufstandsbekämpfung sowie aus dem Etat für «vertrauliche und geheimdienstliche» Zwecke des Präsidialamts für die weitaus dringendere Pandemiebekämpfung einzusetzen, beschimpfte Parlade die SenatorInnen als «dumm». Schliesslich hätten diese Ende 2020 den jeweiligen Budgets zugestimmt.

Bei diesem Streit, so vermuten RegimekritikerInnen, geht es um das Schmieren der präsidialen Wahlkampfmaschinerie. Anfang Mai 2022 stehen die nächsten allgemeinen Wahlen an, zu denen Rodrigo Duterte gemäss aktuell gültiger Verfassung nicht erneut antreten darf. Bereits heute sieht das private Meinungsforschungsinstitut Pulse Asia die Bürgermeisterin von Davao City, der grössten Stadt im Süden, im Rennen um das höchste Staatsamt als mit Abstand aussichtsreichste Kandidatin. Es ist dies keine Geringere als Sara Duterte-Carpio, die Tochter des Präsidenten. Sie beerbte ihren Vater im Sommer 2016 als Bürgermeisterin, nachdem dieser bereits seit 1988 als Chef im Rathaus von Davao residiert hatte.

Rainer Werning berichtet seit Mitte der achtziger Jahre für die WOZ aus Südost- und Ostasien. Er ist unter anderem Koherausgeber des in 6. Auflage erschienenen «Handbuchs Philippinen» (Regiospectra Verlag, Berlin 2019).