Werbeverbot: Wem gehört das Stadtbild?

Nr. 10 –

Am Sonntag stimmt die Stadt Genf darüber ab, ob kommerzielle Werbung aus der urbanen Öffentlichkeit verbannt werden soll. Eine Forderung, die in der Romandie an Schwung gewonnen hat.

Plakatflächen in Genf, welche nur zur Hälfte belegt sind
Es könnte so schön sein: Genf (fast) ohne Plakatwerbung, Januar 2017. Foto: TG / Steeve Luncker

Im gemütlichen Bistro gleich neben der Plaine de Plainpalais, der grossen hellroten Freifläche mitten in der Genfer Innenstadt, wirkt Emmanuel Deonna etwas ausgelaugt. Und leicht genervt: Er habe am Morgen ein Fernsehinterview gegeben, in dem es mal wieder fast ausschliesslich ums Geld gegangen sei. Um den Umfang der Werbeeinnahmen, die der Stadt Genf wegzufallen drohten, falls die Stimmberechtigten am Sonntag die Initiative «Genève zéro pub» annähmen. «Ob das jetzt vier oder acht Millionen Franken sind, fällt bei einem 1,2-Milliarden-Budget doch nicht ins Gewicht», sagt Deonna. «Stattdessen müssten wir mal ganz grundsätzlich über Werbung reden.»

Fast sechs Jahre ist es her, seit Deonna – 43-jährig, freier Journalist und SP-Politiker – «Genève zéro pub» mitangestossen hat. An sich sind Werbeverbote nichts Aussergewöhnliches in der Schweiz, es gibt sie punktuell etwa für die Tabak- und die Alkoholbranche. Mancherorts gibt es zusätzliche Regulierungen, etwa im Kanton Basel-Stadt, wo sexistische Darstellungen gemäss Plakatverordnung verboten sind. «Genève zéro pub» allerdings will weiter gehen: Kommerzielle Plakat- und Bildschirmwerbung soll generell verboten werden – und zwar nicht nur auf öffentlichem Grund, sondern auch auf privatem, sofern sie dort von städtischem Boden aus zu sehen ist. Ausnahmen sind für Kultur-, Sport- und Bildungsangebote vorgesehen, und auch kommerzielles Sponsoring soll weiterhin erlaubt sein.

Ein beschwerlicher Weg

Der politische Widerstand gegen die Initiative habe in den letzten zwei Jahren enorm zugenommen, sagt Deonna. Anfangs habe sich die Werbe- und Kommunikationsbranche nämlich darauf beschränkt, die Initiative juristisch zu bekämpfen. Seit diese aber im März 2021 vom Bundesgericht für zulässig befunden worden ist, habe die Debatte eine hitzige, zuweilen fast hasserfüllte Wendung genommen. Als im März 2022 auch noch das Genfer Stadtparlament die Annahme der Initiative beschloss, lancierte der bürgerliche Block mit den Wirtschaftsverbänden das Referendum gegen deren Umsetzung; beim Werbeverbot handle es sich um einen «ideologischen Bulldozer», klagte stellvertretend Mitte-Gemeinderat Alain Miserez.

Emmanuel Deonna kehrt den Vorwurf um. «Was wir fordern, ist eine Befreiung», sagt er. Ginge es nach ihm, würde in Genf in diesen Tagen eine breite Auseinandersetzung über die Zwänge des Konsumismus stattfinden, über Gendernormen, über die wachstumsgetriebene Überhitzung des Planeten. Es würde über die Vereinnahmung des öffentlichen Raums durch Privatunternehmen diskutiert, die den Stadtbewohner:innen eindimensionale Lebensentwürfe aufzwängen. Man würde über die Verhöhnung eines Grossteils der Bevölkerung sprechen, dem die Werbeindustrie ständig vorhalte, wie ein erstrebenswertes Leben auszusehen habe – der sich die beworbenen Produkte aber nie würde leisten können. «Werbung steckt im Kern des Kapitalismus», sagt Deonna. Sie schaffe fortwährend neue Bedürfnisse, die nachweislich unglücklich machten. Und dabei den Planeten zerstörten.

Seit 2015 ist Deonna SP-Parlamentarier, damals wurde er in den Stadtrat gewählt, später wechselte er in den Kantonsrat. Er verortet sich selbst am linken Parteirand; eigentlich komme er aus dem Menschenrechtsaktivismus, wo er sich insbesondere im Bereich Migration und Asyl engagiert habe. Zwar habe er auch die globale werbekritische Bewegung nebenbei schon lange verfolgt – aber zum echten politischen Handlungsfeld wurde das Thema in Genf erst Anfang 2017.

Über Nacht erhielt die Stadt damals zum Jahresbeginn ein neues Gesicht: Aufgrund eines Konzessionsstreits blieben sämtliche städtischen Werbeflächen drei Wochen lang unverkauft und leuchteten stattdessen in strahlendem Weiss. Plötzlich sprang ins Auge, wie viel Platz die Plakatwerbung tatsächlich besetzt – und was sich damit sonst noch anstellen liesse. Die Genfer:innen fingen an, ihre eigenen Botschaften auf die freien Flächen zu schreiben und zu zeichnen. Deonna sammelte die Bilder in einer Facebook-Gruppe, und bald tat sich eine Handvoll Leute aus vier Organisationen zusammen, um eine Initiative zu lancieren: vom werbungskritischen Kollektiv Glip (Genève libérée de l’invasion publicitaire), von der Basisvereinigung Quartiers Collaboratifs, vom wachstumskritischen Netzwerk ROC (Réseaux d’Objection de Croissance), vom ökopolitischen Magazin «Moins!». Dass es eine städtische Initiative werden sollte, war ein pragmatischer Entscheid: «Die Stadt ist linker als der Kanton, wo wir kaum eine Chance gehabt hätten», sagt Deonna.

Bereits im Sommer 2017 stand der Initiativtext, im November waren die nötigen Unterschriften beisammen. Doch damit begann ein langer, aufreibender Weg. «Ab da mussten wir das Momentum ständig aufrechterhalten», sagt Deonna. Man habe Infoveranstaltungen und Partys organisiert, etwa zum internationalen «Buy Nothing Day», der jedes Jahr am 25. November stattfindet. Und es sei alles andere als selbstverständlich gewesen, die ganze städtische Linke für das Anliegen zu gewinnen. «In dieser grossen, kapitalistischen Stadt ist der marktwirtschaftliche Druck auf die Politik immens», sagt Deonna. «In kleineren Gemeinden ist das vielleicht anders.»

Bundesgericht als Türöffner

Zum Beispiel im Nordwesten von Genf, im wenig glamourösen Vorort Vernier. An der viel befahrenen Hauptstrasse steht ein grosses Möbelhaus gleich neben einem Einkaufszentrum, gegenüber ragen die silbernen Tanks eines Petroleumlagers in die Höhe. Tief über Vernier mit seinen 33 000 Einwohner:innen senkt sich die Maschine einer Billigairline, um unmittelbar hinter der Stadtgrenze auf der Landepiste des internationalen Flughafens aufzusetzen. Vernier, so scheint es, ist klassische Agglomeration.

Und ausgerechnet hier, gewissermassen mitten in der Durchschnittsschweiz, wird bald ein Aussenwerbungsverbot – ähnlich wie es die Initiative «Genève zéro pub» fordert – in Kraft treten. Nachdem die linken Parteien bei den letzten Wahlen hatten zulegen können, brachten einige Lokalpolitiker:innen die Idee eines Aussenwerbungsverbots voran – und die bürgerlichen Gegner:innen trotz wütender Einwände kein Referendum zustande. Zuletzt gab es noch juristische Verzögerungen, aber das Verbot dürfte aller Voraussicht nach im Sommer in Kraft treten.

«In Genf mussten wir mit der Volksinitiative einen sehr viel weiteren Weg gehen», sagt Ada Amsellem. Die 32-jährige Juristin gehört seit Beginn zum Kernteam von «Genève zéro pub»; insbesondere die rechtlichen Aspekte der Initiative hat sie eng begleitet: von der Formulierung des Initiativtexts über die Einsprache gegen den Genfer Staatsrat, der die Initiative zunächst für unzulässig erklärte, bis hin zur Klage eines Genfer Grafikers, damals noch Mitglied der Grünen, die schlussendlich vor Bundesgericht verhandelt wurde. «Es brauchte unvorstellbar viel Zeit und Energie, dieses Vorhaben durch alle gerichtlichen Instanzen hindurchzubringen», sagt Amsellem. «Klagen und Verzögern: Das ist eben die Strategie der Werbebranche.»

Der juristische Schlagabtausch endete im März 2021 mit einem fundamentalen Erfolg für die Initiant:innen: Das Bundesgericht urteilte, dass das Werbeverbot zulässig sei, dass es die Wirtschaftsfreiheit nicht verletze – und dass die Gemeindeebene durchaus die richtige sei, um eine solche Regelung zu implementieren. Es ist ein Urteil, das nicht nur «Genève zéro pub» den Weg geebnet hat, sondern potenziell in der ganzen Schweiz als Türöffner für werbekritische Vorstösse dienen könnte.

Ada Amsellem hält sehr realpolitische Argumente für «Genève zéro pub» bereit, etwa wenn es um den bürgerlichen Vorwurf geht, die Initiative stelle einen Angriff auf die Genfer Lokalwirtschaft dar: In Wahrheit werde das Genfer Kleingewerbe davon profitieren, wenn grosse Unternehmen ihre Marktmacht nicht länger so grossflächig ausspielen könnten, so Amsellem. Überhaupt stelle das Werbeverbot eine wirtschaftliche Entlastung dar: «Je mehr Werbung es gibt, desto grösser ist der Druck auf die Konkurrenz, ebenfalls Geld ins Marketing zu stecken», sagt Amsellem. Und dies wiederum schlage sich in den Preisen der beworbenen Konsumgüter nieder.

Amsellems Kritik an der Werbung ist aber auch eine sehr grundsätzliche. Sie verweist auf deren manipulativen Einfluss auf Erwachsene und Kinder, auf die problematische Inkohärenz, die sich in der Gesellschaft zwischen dramatischer Nachrichtenlage und schöngefärbter Werbewelt auftue. Und sie nimmt Bewegung wahr: «Noch vor nicht allzu langer Zeit wurde Werbung nicht einmal von links wirklich problematisiert – es waren einfach ein paar wenige Gruppen, die sich dagegen engagierten», so die Juristin. «Jetzt hoffe ich, dass die Kritik auch anderswo weiter Fahrt aufnimmt.»

Genau das hat sich in Lausanne Nicolas Rey zur Aufgabe gemacht. Der 31-jährige Umweltingenieur ist treibende Kraft hinter «Sortir de la pub» (Raus aus der Werbung), einer Art Lobbyplattform für Politiker:innen, die auf lokaler Ebene gegen Aussenwerbung vorgehen wollen. Gegründet habe er diese vor einigen Jahren mit zwei Kolleg:innen, als in Lausanne viele Leute ihren Unmut über die Kommerzialisierung des öffentlichen Raums geäussert hätten. «Es gab viele spontane Aktionen, viele Werbeflächen wurden zerstört», erzählt Rey, worauf die Polizei mit verstärkter Repression reagiert habe. Viele seien verängstigt gewesen. «Den Beteiligten wurde bewusst: Auf diesem Weg wird man nicht mehr allzu viel erreichen», sagt Rey. «Der Moment war gekommen, an dem eine politische Antwort auf den Unmut erwartet wurde.»

Die Arbeit zahlt sich aus

Rey, der selber keiner Partei angehört, wusste von einigen Politiker:innen in der Region, die für das Thema sensibilisiert waren. Also fing er an, diese zu Gesprächen einzuladen, den Erfahrungsaustausch zu fördern. Ein gutes Dutzend habe er so vernetzen können, hauptsächlich aus der Waadt. Er richtete eine Website ein, auf der unter anderem eine Karte zu finden ist, die zeigt, wo in der Romandie gerade Vorstösse zur Regulierung der Aussenwerbung laufen, von Genf über Lausanne bis nach Neuchâtel.

Die Gesetzeslage sei überall unterschiedlich, weshalb sich auch keine einheitlichen Vorgehensweisen und Strategien formulieren liessen, sagt Rey. Was sich aber sagen lasse: «Am vielversprechendsten ist es, wenn der Antrieb für ein Werbeverbot aus Parlamenten und Regierungen kommt», so Rey. Davon zeugt ein weiteres überraschendes Beispiel: In Mont-sur-Lausanne, einer eher wohlhabenden Gemeinde oberhalb von Lausanne mit etwas mehr als 9000 Einwohner:innen und einem bürgerlich dominierten Gemeinderat, wurde vor kurzem ein Aussenwerbungsverbot verabschiedet. «Ich denke, dass sich derzeit unsere Arbeit der letzten Jahre auszahlt», sagt Rey. «Es gab eine längere Sensibilisierungsphase – und nun sind wir einen Schritt weiter. Die Leute wissen mittlerweile um die Zusammenhänge.»

Ob es am Sonntag in Genf aber für eine Mehrheit reicht, ist komplett ungewiss. Es gibt keine Umfragen, und auch Emmanuel Deonna wagt keine Prognose. Sein Ja-Komitee hat jedenfalls die offizielle Unterstützung von SP, Grünen und der linken Koalition Ensemble à Gauche wie auch von 150 Privatpersonen, unter ihnen etwa Jean Ziegler. Hinzu kommen Organisationen wie Greenpeace und Gruppen wie Klimastreik und Frauenstreik. «Die Leute haben echt genug von der Werbung», ist Deonna überzeugt. Ob aber eine Mehrheit von ihnen bereit ist, sie tatsächlich zu verbieten? Es wäre jedenfalls ein starkes Signal für die ganze Schweiz – und auch darüber hinaus.