Fussball-EM: Die Gatekeeper der Swissness
Ach, Fussball! Da geht draussen vor der Bar das hurrapatriotische Gehupe los, aber für einmal ist das alles nicht so schlimm. Die Schweiz hat gerade den Weltmeister aus dem Turnier geworfen, in einem Riesenspiel mit höllischer Dramaturgie. Aber erst, als Captain Granit Xhaka sich vor der Fernsehkamera genüsslich durch die Haare streicht und den Zeigefinger vor den Mund hält, wird klar, warum sich dieser Moment so gut anfühlt: Es ist, als hätte diese Nationalmannschaft soeben ein Spiel gegen die Schweiz gewonnen. Oder besser: gegen die alte Schweiz, die in der Realität immer weniger existiert, als Idee aber nach Kräften am Leben erhalten wird.
Diese alte Schweiz hat schon immer den aufrichtigen Blick in den Spiegel gescheut. An viel zu vielen Orten bleibt sie masslos überrepräsentiert – gerade auch in der Fussballberichterstattung. So war etwa im SRF-Studio nach dem Schlusspfiff, in diesem Moment des grössten Erfolgs, eine gewisse Konsternation spürbar: Die Herren dort wussten, dass Xhaka auch sie meinte, als er sagte, mit seinem Team gerade «sehr vielen den Mund gestopft» zu haben. Dieselben Herren, die sich von schlechten Nati-Auftritten schon mal persönlich beleidigt fühlen und die Loyalität der Fussballer latent infrage stellen. Die sich darüber beklagen, dass diese Mannschaft vor und an der EM «unnötige Nebenschauplätze» eröffnet habe – dabei waren sie es, die Nichtigkeiten wie Frisuren und Hymnensingen erst zum Schauplatz erklärt hatten.
Überhaupt ist Fussballjournalismus ja eine eigenartige Sache. Eigentlich geht es darum, ein Spiel zu beschreiben und bestenfalls noch das ganze Milliardengeschäft drumherum. Üblicherweise scheinen sich diese Sportjournalisten aber in der Richterrolle zu gefallen: Unterirdisch gespielt! So darfst du nicht verteidigen! Den musst du machen! Ob ihre sportliche Expertise zum Urteilen ausreicht, ist traditionsgemäss Stoff für ausufernde Diskussionen. Problematischer wird es aber dann, und zwar viel zu oft, wenn die Richtersprüche vom Fussball- weg ins gesellschaftspolitische Feld führen – immer im scheinbar unschuldigen Selbstverständnis, gänzlich unpolitisch den gutschweizerischen Common Sense zu vertreten. So zetteln Sportredaktionen regelmässig Migrationsdebatten an, in denen die echten ExpertInnen kaum vorkommen: die migrantische Schweiz, die meistens nur gemeint, selten aber gefragt wird. Veranstaltet wird stattdessen ein substanzloser Schlagabtausch zwischen den Gatekeepern der Swissness.
Und das wohl Frustrierendste daran sind ausgerechnet die Argumente jener, die sich schützend vor die angegriffenen Fussballer stellen: Sie reden gern von «gelungener Integration» oder von «fremden Kulturkreisen», aus denen «Werte» mitgebracht würden, die dem Schweizer Fussball noch gefehlt hätten. Die paternalistische Vereinnahmung erreichte diese Woche ihren Höhepunkt, als sich die Kritiker gar noch dafür lobten, das Team mit ihren Kampagnen wachgerüttelt zu haben. Eine geglückte Züchtigungsmassnahme soll es also gewesen sein, die das erfolgreichste Nationalteam der Geschichte wieder auf den richtigen, auf den schweizerischen Weg gebracht habe.
Die Erzählung wird kaum verfangen. Zu weit hat sich die Gilde der Experten schon ins Abseits schwadroniert, zu deutlich war der Triumph der Mannschaft über die Quengelei der überholten Schweiz. Ob damit ein Durchbruch gelungen ist, der die Schweiz nachhaltig verändern wird, wie es mancherorts heisst? Im Fussballkosmos selbst wird die Debatte erfahrungsgemäss verpuffen, sobald der Wind wieder dreht. Umso wichtiger sind die Anknüpfungspunkte zur politischen Schweiz: etwa zum Stimm- und Wahlrecht und zur erleichterten Einbürgerung für alle, die in diesem Land leben. Womöglich ist ja der Zeitpunkt für solche Forderungen so günstig wie nie: jetzt, da das Nationalteam den Schweizermachern für einen Moment den Mund gestopft hat. Überhaupt darf die alte Schweiz auch gerne dort bleiben, wo sie sich offensichtlich am liebsten austobt: auf Nebenschauplätzen.