Asylpolitik: «Das ist ein kollektives Verbrechen»

Nr. 27 –

Für Geflüchtete wird es immer schwieriger, nach Europa zu gelangen. Der Zürcher SP-Ständerat und Rechtsprofessor Daniel Jositsch fordert deshalb die Wiedereinführung des Botschaftsasyls, nötigenfalls mit einer Volksinitiative.

WOZ: Daniel Jositsch, Sie haben kürzlich mit der Sicherheitspolitischen Kommission des Ständerats die EU-Aussengrenze in Griechenland besucht. Was war Ihr Eindruck?
Daniel Jositsch: Zum einen habe ich den Eindruck erhalten, dass die europäische Flüchtlingspolitik darin besteht, ein Bollwerk gegen die Migration zu errichten. Und zum andern, dass kein Staat gewillt ist, dem anderen zu helfen. Wir haben die Mauer besucht, die Griechenland an der Evros-Grenze errichtet. Ich habe gefragt: Was unterscheidet diese Mauer von jener, die Trump im Süden der USA bauen wollte? Der Schweizer Oberzolldirektor Christian Bock, der mit auf der Reise war, hat geantwortet: Die von Trump ist etwas höher, hat eine andere Farbe und kostet mehr.

Hat Sie die Situation, die Sie angetroffen haben, überrascht?
Überrascht hat mich nicht die Politik an sich, die war mir bekannt, wohl aber die Eindeutigkeit, mit der sie verfolgt wird. Die Griechen geben offen zu, dass eine Mauer das Problem nicht lösen wird. Und wir alle wissen, dass wir damit Menschen in einer unerträglichen Situation alleine lassen. Wir konnten auch ein Flüchtlingslager besuchen. Vermutlich haben sie uns noch das zivilisierteste gezeigt. Doch es war wie eine Haftanstalt, in der selbst Kinder untergebracht sind.

Ist der Zugang zum Asylrecht in Europa überhaupt noch gewährleistet?
Grundsätzlich schon. Es gibt humanitäre Visa und auch Resettlement-Programme, mit denen Schutzsuchende kommen können. Was in der Schweiz als grosszügige Geste verkauft wird, ist für Flüchtende aber eher wie ein Sechser im Lotto. Die Zahl der Aufnahmen ist sehr klein. Wer selbst nach Europa gelangt, muss dafür die Grenzkontrollen passieren, um einen Antrag zu stellen. Ehrlicherweise müssen wir uns eingestehen, dass dies ein «survival of the fittest» ist: Wir haben aktuell zehn Tote pro Tag im Mittelmeer. Das ist eine schockierende Zahl.

Was ziehen Sie für eine Konsequenz daraus?
Ich versuche, nicht allzu emotional zu werden. Aber angesichts dieser Situation muss man sagen, dass wir uns kollektiv eines Verbrechens schuldig machen. Weil wir im Wissen über die Situation die Leute mit ihren Problemen alleine lassen. Ich empfinde es als in höchstem Masse störend, dass die europäischen Staaten inklusive der Schweiz ein System aufrechterhalten, das offensichtlich nicht funktioniert und Menschen in eine lebensgefährliche Lage bringt. Wir müssen dringend etwas unternehmen. Das Sinnvollste und Einfachste wäre die Wiedereinführung des Botschaftsasyls.

Warum?
Weil es einer praktischen Logik folgt: Wer fliehen muss, kann sich bei der Botschaft eines Landes melden, in das er möchte. Beispielsweise, weil dort schon Verwandte leben. Je nachdem, ob ein Asylgrund gegeben ist, wird das Gesuch dann bewilligt oder nicht.

Die Schweiz hat das Botschaftsasyl 2013 abgeschafft. Nun fordern Sie im Ständerat mit einem Vorstoss die Wiedereinführung. Der Bundesrat lehnt dies ab: Die Schweiz könne sich keinen Alleingang leisten, es drohe eine «ungleiche Lastenverteilung». Was sagen Sie zu dieser Argumentation?
Ich finde es seltsam, dass man darauf beharrt, von der Europäischen Union unabhängig zu sein, gleichzeitig aber etwas nicht tun möchte, weil man der einzige Staat wäre. Mit dem Botschaftsasyl würden nicht mehr Menschen in die Schweiz kommen. Die Voraussetzungen, dass jemand als Flüchtling anerkannt wird, werden nicht erleichtert. Vielleicht melden sich in einer Anfangsphase einige Leute mehr bei der Botschaft, weil sich die Möglichkeit herumspricht. Das gibt dann halt einen etwas höheren administrativen Aufwand. Wenn wir aber abwägen zwischen dem Aufwand und den Menschenleben, die gerettet werden können, ist die Rechnung einfach.

Glauben Sie, dass Ihr Vorstoss im Parlament eine Chance hat? In der Asylpolitik gab es in den letzten Jahrzehnten fast nur Rückschritte.
Langfristig glaube ich an eine Chance, weil die Logik für das Botschaftsasyl spricht. Ich erachte es sogar als sinnvoll, eine entsprechende Volksinitiative zu lancieren. Zwar sind die Flüchtlingsorganisationen zurückhaltend, weil sie eine Kanterniederlage fürchten. Aber ich bin sicher, dass man den Leuten die Logik erklären kann. Und wenn man etwas erklären kann, dann ist auch ein Abstimmungserfolg möglich.

Sie vertreten den Reformflügel der SP, haben sich bisher nicht stark mit der Flüchtlingspolitik beschäftigt. Was hat Sie dazu gebracht, sich hier zu engagieren?
Schlicht der Umstand, dass ich im Ständerat seit eineinhalb Jahren in der Staatspolitischen Kommission bin, die sich mit solchen Fragen auseinandersetzt. Ich wollte am Anfang wissen, was der Handlungsbedarf in der Asylpolitik ist, und habe mit Mario Gattiker, dem Leiter des Staatssekretariats für Migration (SEM), eine Sitzung abgemacht. Irgendwann habe ich die Frage gestellt, auch mit einer gewissen Naivität: Mario, erklär mir, wie kommt man als Flüchtling legal in die Schweiz? Die Antworten überraschten mich in ihrer Tragweite dann schon. Im Prinzip ist es im Dublin-System nicht möglich, legal in die Schweiz zu kommen. Wenn ein Asylsuchender Griechenland verlassen will, um zu seiner Familie in der Schweiz zu reisen, wird er in die Illegalität gezwungen.

Flüchtlingsorganisationen weisen seit Jahren auf das Versagen des Dublin-Systems hin. Hätten Sie sich nicht schon früher mit dem Thema beschäftigen müssen?
Nein, ich habe kein schlechtes Gewissen. Es gibt viele Bereiche, mit denen man sich als Politiker beschäftigen kann. Angesichts dessen, dass die Welt kein Paradies ist, müssen wir ja trotzdem einmal ruhig schlafen können. Wenn man aber ein Problem erkannt hat, muss man auch nach einer Lösung suchen.

Anlass für Ihre Reise nach Griechenland war ein Besuch bei der Grenzschutzagentur Frontex. Gegen die Organisation läuft eine Untersuchung des EU-Parlaments wegen illegaler Pushbacks von Geflüchteten an der Grenze. Welche Rolle spielt Frontex Ihrer Meinung nach?
Frontex an und für sich wird uns im Parlament immer geschildert als Organisation der Kriminalitätsbekämpfung. Aber wir haben in Griechenland gesehen, dass ein Grossteil von Frontex der technischen Durchsetzung der europäischen Migrationsabwehr dient. Ich würde Frontex in diesem Sinn als Vollzugsinstrument dieser Politik bezeichnen.

Die Schweiz soll ihre personelle und finanzielle Beteiligung an Frontex aufstocken. Wäre es nicht besser, sie würde davon absehen?
Frontex ist nicht per se das Problem, sondern das Vollzugsinstrument eines problematischen Systems. Als im Ständerat über die Aufstockung diskutiert wurde, haben SP und Grüne deshalb gefordert, dass wir nicht mehr in dieses System investieren sollen, wenn nicht gleichzeitig humanitäre Massnahmen ergriffen werden. Die Resettlement-Quote, mit der vom Uno-Flüchtlingshilfswerk anerkannte Flüchtlinge in die Schweiz kommen können, soll erhöht werden. Wir haben deshalb die Aufnahme von zusätzlich 4000 Menschen gefordert. Ein Gegenvorschlag aus der Mitte-Partei wollte 2900. Er scheiterte am Stichentscheid des Präsidenten.

Stehen die Chancen für eine grosszügigere Aufnahme von Geflüchteten besser, wenn das Geschäft in den Nationalrat kommt?
Die bürgerlichen Parteien müssen uns entgegenkommen, wenn das Geschäft nicht abstürzen soll. Die SVP, die im Nationalrat stärker ist als im Ständerat, ist aus Prinzip gegen die Frontex-Vorlage.

Daniel Jositsch

Besonders zu reden gibt die Asylpolitik immer auch im Kanton Zürich. Ihr Parteikollege Mario Fehr ist aus der SP ausgetreten. Sie haben ihn dafür deutlich kritisiert: Nicht die SP habe sich nach links, sondern Fehr sich nach rechts bewegt. Meinten Sie damit auch seine harte Linie in der Asyl- und Migrationspolitik?
Definitiv. Er hat da immer wieder Positionen vertreten, die ich nicht teile. Auch bei der letzten Abstimmung, bei der es um die Nennung von Nationalitäten bei Polizeimeldungen ging. Man kann in der SP unterschiedliche Meinungen haben. Ich weiche auch manchmal von der Parteilinie ab. Aber dann muss man sich auch der Diskussion stellen.