Chile wählt: Der Kommunist, der sein Land umwälzen will

Nr. 28 –

Der linke Bürgermeister Daniel Jadue hat gute Chancen, im November die Präsidentschaftswahl zu gewinnen. Seine Gemeinde Recoleta in Santiago gilt landesweit als Modell für ein neues Chile.

«Wer den Staat als Werkzeug der Klassenunterdrückung zerstören will, muss bei den Gemeinden ansetzen»: Daniel Jadue. Im Hintergrund das Wohnareal «Soziale Gerechtigkeit I».

Die Türme sind von weitem zu sehen. Zwei vierstöckige Blocks, die in grellem Gelb über die niedrigen Nachbarschaftshäuser hinausragen. Es sind Sozialbauten, aber nicht irgendwelche, sondern die ersten in öffentlicher Verwaltung seit mehr als 45 Jahren. Das Wohnareal «Soziale Gerechtigkeit I» mit gerade mal 38 Wohnungen stellt eine kleine Revolution im neoliberalen Chile dar.

Sandra Leyton wohnt hier mit ihren zwei Kindern. Sie ist zeitgleich mit der Eröffnung der Blocks vor einem Jahr eingezogen. «Endlich habe ich eine würdige Wohnung», sagt die Frau mit sichtlicher Freude. Ihr vorheriges Zuhause beschreibt die Mittvierzigerin als klein, dunkel und baufällig. «Im Winter regnete es rein, nie unternahm der Besitzer Reparaturarbeiten.» Zudem sei die Miete viel zu hoch gewesen. Mehr als die Hälfte ihres Lohns von umgerechnet 420 Franken ging dafür drauf.

Hier ist alles anders: Die Wohnung ist 57 Quadratmeter gross, hat drei Schlafzimmer und einen Balkon. Für das Ganze zahlt Leyton gerade einmal 100 Franken. Die Miete wird individuell angesetzt, sie beläuft sich jeweils auf maximal ein Viertel der monatlichen Einkünfte. Der Bau des Komplexes wurde von Daniel Jadue initiiert. Seit 2012 regiert der Kommunist die Gemeinde Recoleta in der Hauptstadt Santiago, um umzusetzen, was er die Überwindung des Neoliberalismus auf lokaler Ebene nennt. Im Büro der Gemeindeverwaltung treffen wir auf den 54-jährigen Mann, der am 21. November Chiles neuer Präsident werden könnte.

Jadue ist von grosser Statur, sein Auftritt ist energisch und klar. Er ist Marxist, studierter Soziologe und Architekt – sein Studium dient ihm als Grundlage für die heutige Politik. Die Abschlussarbeit in Architektur schrieb er über sozialen Wohnungsbau, heute hat er seine damaligen Pläne nur wenige Hundert Meter vom Rathaus entfernt verwirklicht. Von seinem Fenster aus blickt er direkt auf die zwei Türme. «Wir entnehmen dem Markt Schritt für Schritt Teile der Wirtschaft», sagt er.

Gegen die Kartelle

Das gilt nicht nur für die Sozialbauten. Im Erdgeschoss des Rathauses tummeln sich überall Menschen. Hier gibt es einen Optiker und einen Buchladen sowie eine öffentliche Apotheke, vor der die Menschen Schlange stehen.

Vor einem Schalter mit Plexiglasscheiben der «Farmacia Popular» steht Esther Ramos. Sie kommt regelmässig hierher. «Der Preisunterschied ist erschreckend», sagt sie. «In einer privaten Apotheke zahle ich für meine monatlichen Medikamente rund sieben Mal mehr als hier.» Ramos hat wie die meisten RentnerInnen eine Pension, mit der sie unter der Armutsgrenze lebt.

Staatliche Läden, die Basisprodukte unter dem Marktwert verkaufen, sind zum Hauptmerkmal von Jadues Politik geworden. Seit Beginn seiner Amtszeit richtet er laufend neue Läden ein, die ihre Produkte zum Einkaufspreis weiterverkaufen, zudem übernimmt die Gemeinde teilweise die Löhne der Angestellten.

Er wolle den Menschen Güter des täglichen Bedarfs zu angemessenen Preisen anbieten, sagt Jadue. «Dadurch geben wir vor, was ein Produkt kosten soll.» Damit wolle er die Versorgung der Bevölkerung der Macht des Marktes entreissen. Jadue blickt von seinem Büro im fünften Stock auf das gegenüberliegende Haus hinunter, wo eine grosse Apothekenkette ein Geschäft betreibt. «Früher war die Apotheke über die ganze Fassade eingemietet, heute ist sie nur noch ein Drittel so gross.»

Hintergrund von Jadues Politik ist der knallharte Neoliberalismus, den Augusto Pinochets Diktatur von 1973 bis 1990 durchgesetzt hat und der von Mitte-links-Parteien fortgesetzt wurde. «Wie Karl Marx bereits dargelegt hat, führt die Entwicklung des Kapitalismus zu Marktmonopolen und verstärkt die Klassengegensätze», sagt Jadue. Die Privatisierungen aller Lebensbereiche in den vergangenen 48 Jahren hat in der Tat grosse Marktkartelle hervorgebracht. Immer wieder kommt es in Chile zu Skandalen wegen Preisabsprachen von Unternehmen, sei es bei Klopapier, Medikamenten oder Pouletfleisch. Die Folge sind enorm hohe Lebenskosten, die sich die Menschen nicht leisten können.

Ein Wohnprojekt für die Zukunft

Mit seiner Kritik ist Jadue nicht alleine. Seit 2006 gehen in Chile immer wieder Schülerinnen, Studenten und Angestellte auf die Strasse, um gegen die neoliberale Politik zu protestieren. 2011 forderten die Studierenden mit Massenprotesten eine öffentliche und kostenlose Bildung. In Chile ist die Bildung meist privat und auf universitärer Ebene fast vollständig durch Studiengebühren finanziert. Im Oktober 2019 gingen schliesslich Millionen von Menschen gegen die rechte Regierung und das neoliberale Wirtschaftssystem auf die Strasse.

Jadue erhielt viel Aufmerksamkeit, als er das gemeindeeigene Bildungssystem ausbaute. Während im restlichen Chile die öffentliche Bildung als schlecht angesehen wird und immer mehr Schulen schliessen, gehen in Recoleta seit 2014 die Schülerzahlen wieder nach oben. Aus ganz Santiago bringen Eltern ihre Kinder hierher, einst geschlossene Schulen werden wiedereröffnet.

Jadue hat das Budget für Bildung erhöht, hat reihenweise Bibliotheken eröffnet und die Schulen zu sozialen Treffpunkten gemacht: Nach dem normalen Unterricht finden für die BewohnerInnen der Gemeinde bis zehn Uhr abends offene Workshops statt.

Die Angebote sind beliebt. Bis zum Ausbruch der Coronapandemie gab es verschiedene Kunstkurse, Sportangebote und Nachhilfeunterricht. Im Jahr 2019 eröffnete Jadue die «offene Universität», in der eine Vielzahl an Kursen kostenlos und ohne Aufnahmebedingungen angeboten werden. Aufgrund der Pandemie mussten die Projekte teilweise gestoppt werden; seit über einem Jahr findet in ganz Chile der Unterricht nur noch teilweise und meist online statt.

Zurück in den Wohntürmen. Der Direktor der Wohnungsgesellschaft, Alberto Pizarro, sitzt mit einer Familie im Gemeinschaftssaal der beiden Gebäude. Die junge Familie mit ihren drei Kindern bekommt die letzte freie Wohnung. Pizarro erklärt ihnen die Regeln des Zusammenlebens und blickt mit ihnen in die Zukunft.

Die Wohnungen dienen als Übergangslösung: Ziel ist es, die BewohnerInnen innerhalb von vier Jahren in eine Eigentumswohnung entlassen zu können. Sie werden dafür betreut und beim Antrag von Fördergeldern beraten. Der Erwerb einer Wohnung wird vom chilenischen Staat subventioniert, allerdings verlangt er dafür eine gewisse Summe an Eigenkapital. Dieses Eigenkapital sollen die MieterInnen während ihres Aufenthalts in den Sozialwohnungen ansparen können.

«Es handelt sich um ein integrales Projekt der Begleitung», sagt Pizarro nicht ohne Stolz. Die BewohnerInnen kommen meist aus unwürdigen Lebensverhältnissen, leben prekär als UntermieterInnen oder sind Opfer von häuslicher Gewalt. «Hier finden sie erstmals eine anständige Behausung in Sicherheit, von der aus sie ihre Zukunft planen können.»

Daniel Jadues Ideen machen Schule. Immer mehr Gemeinden eröffnen öffentliche Apotheken, und bei den Gemeindewahlen im Mai warben KandidatInnen im ganzen Land mit dem Bau staatlicher Wohnungen.

Sandra Leyton ist froh über diese neue Art der Politik. Sie hat Jadue gewählt – sei jedoch keine Kommunistin: «Würden die Kommunisten an Gott glauben, wäre ich auch eine.» Kommunismus bedeute, «für das Wohl aller zu sorgen», sagt Leyton.

Die Geister der Vergangenheit

Bürgermeister Jadue ist sichtlich Stolz auf seinen Erfolg. Er erzählt über seinen Werdegang: Als Sohn einer geflüchteten palästinensischen Familie engagierte er sich in der linken Volksfront zur Befreiung Palästinas, die auch in Chile aktiv ist – dort wurde er politisiert. In den neunziger Jahren wandte er sich allerdings von der palästinensischen Bewegung ab und trat der Kommunistischen Partei bei. Doch er bleibt den palästinensischen Bewegungen bis heute verbunden.

Derzeit wird diese Vergangenheit gerade wieder aufgerollt. Im Juni gelangte ein Beitrag aus einer Schulzeitung aus dem Jahr 1982 über ihn an die Öffentlichkeit, in dem man vorschlug, ihm «einen Juden» zu schenken, «um auf ihn zu schiessen». Darauf angesprochen, distanziert sich Jadue davon und betont, dass dies andere über ihn geschrieben hätten: «Das habe nicht ich geschrieben, entsprechend stellt es nicht meine Meinung dar.» Doch spätestens seither wird er von der offiziellen jüdischen Gemeinde und Chiles Rechter, die sich auch an Jadues Kritik an der israelischen Regierung stört, als Antisemit dargestellt. Linke jüdische Organisationen haben sich dagegen hinter Jadue gestellt.

Im Gespräch, in dem er immer wieder Marx und Lenin zitiert, äussert sich Jadue kritisch über die Vergangenheit der Linken, insbesondere über die Sowjetunion. Dabei unterstreicht er auch die Eigenheiten der chilenischen Kommunistischen Partei (KPCh), auf die sich auch der sozialistische Präsident Salvador Allende stützte, bevor er 1973 von Pinochet weggeputscht wurde. «Wir respektieren die demokratischen Grundregeln und haben uns nie für den bewaffneten Kampf ausgesprochen.» Nur während Pinochets Militärdiktatur gründete die KPCh einen militärischen Flügel, mit dem Ziel, die Demokratie zurückzubringen.

Dass sich die Linke stets auf die Eroberung des Zentralstaates konzentriert habe, sei ein krasser Fehler gewesen, glaubt Jadue. Die Vertretung der Menschen seien die Gemeinden, «hier kommen alle her, fühlen sich gehört und betreut». Wer den Staat als Werkzeug der Klassenunterdrückung zerstören wolle, müsse bei den Gemeinden ansetzen, dort finde die Machtverschiebung statt. «Sie beginnt mit einem Prozess, der Vertrauen schafft und der Bevölkerung Klassenbewusstsein gibt. Das erreicht man einzig in der direkten Arbeit mit den Menschen.»

Jadues politischer Einstieg als Gemeindepräsident in Recoleta war somit bewusst gewählt. «Wir haben aufgrund unserer theoretischen Diskussion beschlossen, in der Gemeindepolitik zu wirken», sagt der Bürgermeister. Wenn Jadue redet, gestikuliert er mit den Armen, immer wieder zitiert er aus seinem druckfrischen Buch mit gesammelten Essays.

Für Jadue geht es nun in eine nächste Phase. Kürzlich stellte er sein Regierungsprogramm für die Präsidentschaftswahlen vom November vor. Er will «einen Staat der sozialen Rechte, in dem allen ein Leben in Würde garantiert wird, unabhängig von der sozialen Herkunft». Die sozialen Dienstleistungen sollen stark ausgebaut, der Staat demokratisiert und weitere Forderungen der sozialen Bewegungen umgesetzt werden. Dazu gehören die staatliche Bezahlung von Teilen der Care-Arbeit und die Übernahme vieler Projekte aus Recoleta. Finanziert werden soll das ambitiöse Programm durch eine tiefgreifende Steuerreform, die den Abbau von natürlichen Ressourcen stärker besteuern und Steuerschlupflöcher stopfen soll. Zudem sollen Ärmere steuerlich entlastet werden, Reiche dagegen durch höhere Einkommens- und Eigentumssteuern mehr abgeben müssen.

Dieses Wochenende findet die Vorwahl statt, in der Jadue gegen den linken Parlamentarier Gabriel Boric antritt. Es gilt als fast sicher, dass Jadue die Wahl gewinnt. Dann würde er ins Rennen um die Präsidentschaft steigen, wo er sich gegen die KandidatInnen von Mitte-Links und Mitte-Rechts wird durchsetzen müssen. Laut neusten Umfragen stehen seine Chancen gut, Chiles nächster Präsident zu werden.