Jugend und Bildung: Die Klassengesellschaft lebt weiter
Dieser Tage wechseln Tausende SchülerInnen von der Primar- in die Sekundarstufe. Studien bestätigen: Sozial benachteiligte Jugendliche werden dabei in vielen Deutschschweizer Kantonen systematisch diskriminiert.
Seit mindestens fünfzig Jahren warnen namhafte PädagogInnen, dass gerade Kinder aus ärmeren Schichten durch die frühe Selektion in der Schule in ihrer Entwicklung behindert würden. Insbesondere gilt das für die dreistufige Aufteilung in der Sekundarstufe. Doch in grossen Teilen der Deutschschweiz scheint die Warnung auf taube Ohren zu stossen: «Während sich in der Didaktik einiges verändert hat, teilen wir SchülerInnen am Ende der Primarschule immer noch in Leistungszüge ein», sagt Rebekka Sagelsdorff, Dozentin für Bildungssoziologie an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Die Studie aus dem Jahr 2019, auf die sie sich in ihrer Kritik bezieht, beruht auf der Masterarbeit von August Simons, mit dem sie die wichtigsten Punkte für die Halbjahresschrift «Widerspruch» ausgearbeitet hat.
Mit der Beibehaltung der Leistungszüge in den letzten Schulreformen wurde diese zusätzliche Benachteiligung gar noch zementiert. So etwa behaupteten BefürworterInnen solcher Leistungszüge in Basel-Stadt – das in den neunziger Jahren mit der Einführung einer dreijährigen Orientierungsstufe noch als fortschrittlich galt –, dass diese mit mehr Chancengleichheit verbunden seien. Ein Trugschluss, wie jüngere Untersuchungen belegen.
Erschwerte Lernbedingungen
Die erwähnte Studie stützt sich auf Interviews mit Betroffenen und aktuelle Forschungsergebnisse. Dabei zeigt sich, dass der Alltag von SchülerInnen, die den tiefsten Leistungszug besuchen – mehrheitlich Jugendliche aus sozial benachteiligten Schichten und/oder mit Migrationshintergrund –, von gesellschaftlicher Stigmatisierung, erschwerten Lernbedingungen und eingeschränkten Berufsperspektiven geprägt ist.
Nach dem Scheitern einer landesweiten Harmonisierung der Sekundarstufe geben weder das Harmos-Konkordat noch der Lehrplan 21 eine allgemein verbindliche Struktur vor. So führen manche Kantone eine Gesamtschule, in der nur in einzelnen Fächern nach dem individuellen Niveau differenziert wird; andere haben bloss zwei Leistungszüge. Viele Kantone jedoch halten an der Dreigliedrigkeit fest. Die Folgen sind frappant: Gemäss einer Studie aus dem Kanton Zürich von 2013 kamen im obersten Niveau 69 Prozent der SchülerInnen aus privilegiertem, 25 Prozent aus eher privilegiertem – und niemand aus benachteiligtem Elternhaus. Selbst bei vergleichbaren Leistungen werden Kinder aus benachteiligten Schichten häufiger einem tieferen Zug zugewiesen, was laut der Studie auch daran liegt, dass dies oft aufgrund schwer klassifizierbarer Kriterien wie Motivation und Verhalten erfolgt.
Auch die Behauptung, dass Leistungszüge zu homogenen Lerngruppen führten, in denen die SchülerInnen optimal gefördert würden, ist falsch. Tatsache ist vielmehr, dass es im tiefsten Zug Jugendliche gibt, die in einzelnen Fächern problemlos mit SchülerInnen des progymnasialen Zugs mithalten könnten. Weitere Studien zeigen, dass schwächere SchülerInnen in gemischten Gruppen viel mehr lernen, weil sie in diesen Anregung und Ansporn finden – ohne dass «gute» SchülerInnen Einbussen in ihrem Lernerfolg hinnehmen müssten.
Im «Widerspruch»-Beitrag stehen die Aussagen zweier Jugendlicher stellvertretend für andere. Da ist zum einen Bojan. Mit einer alleinerziehenden Mutter lebend, die als Putzfrau lange Arbeitstage hat, ist er oft allein und muss sich weitgehend selbst versorgen. Bojan erzählt, wie er beim Übertritt in die Sek gemobbt wurde, weil er im untersten Niveau zu den «Dummen» gezählt wurde. Besonders schmerzhaft bleibt ihm die Enttäuschung seiner Mutter in Erinnerung, als er ins tiefste Niveau eingeteilt wurde. Er weiss, dass er damit weniger Chancen im Leben hat – und glaubt, dass er selbst schuld daran sei, weil er sich zu wenig angestrengt habe. Jetzt tröstet er sich, indem er die andern als «Streber» bezeichnet.
Zum anderen ist da Davide: Seine Mutter ist nicht erwerbstätig, der Vater IV-Rentner. Obwohl seine Noten knapp für den obersten Zug gereicht hätten, entschied er sich für den mittleren. Ende Schuljahr aber wurde Davide abgestuft. Dass er nun im tiefsten Niveau ist, hat sein Selbstbild erschüttert. Doch ist für ihn klar: Er gehört nicht hierher. Von seinen MitschülerInnen, die er als «langsam» und «nicht sehr klug» bezeichnet, distanziert er sich. Auch dass er kaum mehr etwas lernt, frustriert ihn – nach jeder Prüfung rechnet er aus, ob sein Notenschnitt für den Wiederaufstieg reicht.
Zeit für einen Systemwechsel
Oft wird vergessen, dass die Niveauaufteilung bereits in der Primarschule zu grossem Druck führt. In dieser Phase der Identitätsbildung müssen Betroffene Selbstvorwürfe, die verletzende Zuschreibung als «dumm» und das Stigma des tiefsten Niveaus aushalten – und sind zugleich aufgefordert, sich zu motivieren. Kein Wunder, entziehen sich nicht wenige durch Verweigerung und Rebellion. Doch mit dem Ende der Schule ist die Ausgrenzung nicht vorbei: Bei der Lehrstellenvergabe werden Jugendliche aus dem tiefsten Zug von vielen Betrieben von vornherein aussortiert. Und auch wenn sie es schafften, sich in die Arbeitswelt zu integrieren, wirkten die Verletzungen ihres Selbstwertgefühls oft lange nach, sagt Sagelsdorff.
«Jugend – aufbrechen, scheitern, weitergehen» in: «Widerspruch. Beiträge zu sozialistischer Politik», Nr. 76, Mai 2021. 25 Franken. www.widerspruch.ch