Klimagerechtigkeit: «Es sitzen nicht alle im selben Boot»

Nr. 33 –

In seinem Buch «Für einen Umweltschutz der 99 %» folgt der Basler Historiker Milo Probst den Spuren anarchistischer und sozialistischer Kämpfe für Klima und Umwelt. Damit will er zur Lösung von Problemen der Gegenwart inspirieren.

WOZ: Milo Probst, Ihr Buch erscheint zu einem Zeitpunkt, zu dem die Klimakrise auch in Westeuropa sicht- und spürbar ist. Gehören wir eigentlich alle zu diesen 99 Prozent?
Milo Probst: Die These meines Buchs ist, dass wir zwar alle betroffen sind, aber trotzdem nicht alle im selben Boot sitzen. Die Klimakrise muss vielmehr im Kontext der bestehenden Herrschaftsverhältnisse und Ungleichheiten analysiert werden. Davon ausgehend untersuche ich, welche konkreten AkteurInnen die grundlegenden Mechanismen des gegenwärtigen Systems überhaupt infrage stellen und für eine andere, nachhaltige und solidarische Welt einstehen können.

Sie erwähnen Frauen, People of Color und Indigene als ganz direkt von Umweltzerstörung betroffene AkteurInnen, die «protestieren, sich verweigern, streiken, besetzen» und Allianzen untereinander und mit der Natur eingehen.
Ich glaube, man muss von der innerhalb der marxistischen Linken lange verbreiteten Vorstellung wegkommen, dass die meisten Menschen Lohnarbeitende sind, die unmittelbar die gleichen Interessen haben. Angesichts der Klima- und Umweltkrise müssen wir Klassenpolitik neu denken. Im komplizierten Herrschaftsgefüge gibt es heute ganz unterschiedliche Positionen, und trotzdem ist es möglich und notwendig, verschiedene Interessen zusammenzubringen. Das ist der Versuch, den ich in meinem Buch wage: dazu zu inspirieren, auf Gemeinsamkeiten statt auf Unterschiede zu fokussieren.

Aber wie soll durch die blosse Hervorhebung von Gemeinsamkeiten in antirassistischen, feministischen und ökologischen Kämpfen das grundlegende Ziel, nämlich der Bruch mit den kapitalistischen Verhältnissen, erreicht werden?
Es gibt in der Geschichte immer wieder Beispiele, bei denen dies im Kleinen gelang: jüngst etwa die Bewegung Ende Gelände, die im Kampf gegen die Kohleindustrie in Deutschland entstanden ist. Vor wenigen Wochen hat Ende Gelände versucht, eine ihrer Aktionen im antirassistischen und antikolonialen Kontext sichtbar zu machen – und dafür die entsprechenden Kontakte und Verknüpfungen herzustellen. Natürlich ist das erst ein Anfang, aber immerhin existieren Bemühungen um solche Allianzen.

Das Konzept eines Umweltschutzes der 99 Prozent beinhaltet also letztlich die Verbindung von sozialer und Umweltfrage, wie sie die Klimagerechtigkeitsbewegung fordert.
Ich bin inspiriert von der Klimagerechtigkeitsbewegung, weil in dieser Bewegung Intersektionalität wichtig ist, also das Bewusstsein dafür, dass Diskriminierung und Mehrfachdiskriminierungen aufgrund verschiedener Kategorien wie «race» oder Geschlecht auch zu unterschiedlichen Betroffenheiten und Möglichkeiten in Bezug auf die Klimakrise führen.

Bei der Lektüre Ihres Buchs erhält man den Eindruck, dieser Ansatz sei nicht neu: Bereits im 19. Jahrhundert kämpften politische AktivistInnen und Betroffene gemeinsam für soziale und ökologische Anliegen.
Die historischen Beispiele sollen dazu ermutigen, an vergangene Kämpfe anzuknüpfen, weil wir noch immer in einem kapitalistischen System leben, in dem Menschen und die Natur auf unterschiedliche Weise ausgebeutet werden. Aber die damaligen Erfahrungen und Ideen sollen und können nicht einfach kopiert werden: Auch linke Traditionen müssen infrage gestellt werden, da auch diese davon ausgingen, dass sich Gerechtigkeit, Freiheit und Autonomie gewissermassen «erkaufen» lassen, indem die Natur weiter ausgebeutet wird. Es geht immer noch um emanzipatorische Fragen, aber der Kampf muss in Richtung einer ökologischen Nachhaltigkeit entwickelt werden.

Sie schildern, wie eine sozialistische Gruppe in Sheffield um 1890 versuchte, die ArbeiterInnenschaft gegen die Luftverschmutzung zu mobilisieren, und werfen dabei die Frage auf, wie sich das Engagement für eine gesunde Umwelt mit den tagtäglichen Nöten der Lohnabhängigen verknüpfen lässt.
Ich glaube, das ist aktuell eine der grössten politischen Herausforderungen, und bezeichnenderweise scheiterten am Schluss auch die Bemühungen der englischen AktivistInnen, die ich im Buch vorstelle. Das Problem ist, dass viele Gewerkschaften immer noch auf Produktivität und Wachstum ausgerichtet sind. Sie verfolgen eine bewahrende Politik, wollen bestehende Strukturen und Arbeitsplätze sichern, statt darauf hinzuarbeiten, das Produktionssystem grundlegend zu ändern.

Die Bildung von Allianzen scheint insbesondere dort gelungen zu sein, wo grosse Teile der Bevölkerung körperlich stark betroffen waren. Ist physisches Leid eine Voraussetzung dafür, dass ein Umdenken stattfindet?
Nehmen wir das Beispiel der Minenarbeiter in einem Kupferabbaugebiet in Andalusien in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, wo die Luft und das Wasser vergiftet wurden: Dass sich ein grosser Teil der Bevölkerung gegen eine zerstörerische Abbaumethode engagierte, hatte sicher auch mit dem Leidensdruck zu tun. Ich glaube, dass heute das Potenzial bestehen würde, in diesen Fragen neue Zusammenschlüsse herzustellen: Etwa acht Millionen Menschen sterben jährlich an den Folgen von Luftverschmutzung, und es gibt zig Beispiele arbeitsbedingter geistiger und körperlicher Krankheiten, weshalb ich glaube, dass Gesundheitsfragen das Potenzial hätten, die notwendigen Verbindungen für gemeinsame Kämpfe herzustellen.

Trotzdem lautet Ihr Fazit: Viele sind erst bereit, etwas gegen Umweltzerstörung zu tun, wenn die eigene Gesundheit bedroht ist …
Unmittelbare Betroffenheit spielt sicher eine Rolle. Allerdings sieht man heute, dass sich auch Menschen einsetzen, deren Überleben nicht direkt bedroht ist. Gleichzeitig müssen wir vom dominierenden Diskurs um den Umweltschutz wegkommen, der oft noch die Bewahrung von als ursprünglich empfundenen Naturräumen meint. In der Forschung und in Bewegungen wächst das Bewusstsein dafür, dass Umweltgerechtigkeitskämpfe auch von Personen geführt werden, die kein Interesse an dieser Konzeption von Umweltschutz haben. Indigene Bewegungen setzen sich oftmals für die Umwelt ein, indem sie schlicht und einfach um ihr Überleben kämpfen.

Und doch bleibt Umweltschutz ein Stück weit immer ein weisses, kolonialistisches und eurozentristisches Konzept?
Die anarchistischen und sozialistischen Bewegungen, mit denen ich mich beschäftige, kommen aus Europa – daher ist der eurozentristische Fokus auch nicht wegzudiskutieren. Wo es um die SklavInnenaufstände oder auch um den Kampf der Zapatistas in Mexiko geht, versuche ich aber, diese Brille zu reflektieren – die europäischen AnarchistInnen, die diese Kämpfe beschrieben, haben sich in der Mehrheit nicht mit den SklavInnen solidarisiert. Mit den historischen Beispielen will ich also auch die Grenzen der Imaginationen und der Solidarisierungskraft damaliger AktivistInnen aufzeigen. Und wie notwendig es ist, dass sich westliche Linke auch mit nichtwestlichen Bewegungen auseinandersetzen und von ihnen lernen.

Milo Probst Foto: Pierre Kappler

Sie fordern eine Revolution, heben aber die Bedeutung gesellschaftlicher Utopien hervor: Ist denn nun die Zeit des Handelns oder der Utopien?
Ich sehe keinen Gegensatz zwischen Handlung und Utopie. Es ergibt keinen Sinn, ein System umzustürzen, ohne eine Idee davon zu haben, wie man eine neue Gesellschaft gestalten will. Und die Geschichte zeigt, dass Utopien Menschen immer wieder zum Handeln motiviert haben.

Milo Probst

Milo Probst (30) arbeitet als Assistent am Departement Geschichte der Universität Basel und schreibt zurzeit an einer Dissertation über die Umweltkritik in der transnationalen anarchistischen Bewegung. Im September erscheint bei der Edition Nautilus sein Buch «Für einen Umweltschutz der 99 %. Eine historische Spurensuche». Neben seinen Tätigkeiten als Wissenschaftler und Autor engagiert sich Probst in der Klimagerechtigkeitsbewegung. Die Verbindung von Wissenschaft und Aktivismus sieht er selbst als «ein Spannungsfeld, aber auch eine Notwendigkeit».