US-Abzug aus Afghanistan: Ein Lehrstück des Scheiterns

Nr. 33 –

Der Rückzug der US-Truppen aus Afghanistan werde geordnet verlaufen. Kabul werde kein zweites Saigon werden, versicherte Joe Biden, der Präsident und oberste Kriegsherr der USA, bis vor kurzem. Doch die Bilder von verzweifelten Menschen auf dem Flughafen von Kabul spiegeln präzis die Panik und das Chaos wider, die beim Einmarsch des Vietcongs in der südvietnamesischen Hauptstadt im April 1975 ausgebrochen waren. Wie in Vietnam ist auch in Afghanistan die militärische Lösung eines politischen Problems dramatisch gescheitert. Trotz Aufbietung des mächtigsten militärisch-industriellen Komplexes der Welt. Wenn die Akteure unbelehrbar sind, wiederholt sich die Geschichte eben doch. Und zwar als Tragödie.

Noch wenige Wochen vor dem Fall des heutigen Ho-Chi-Minh-Stadt forderte die US-Regierung vom Kongress mehr Militärhilfe für Südvietnam an. Damals belehrte ein frischgebackener Senator namens Joe Biden den Präsidenten Gerald Ford, die Lage in Vietnam sei hoffnungslos. Die USA müssten sich nach zehn Jahren Krieg so schnell wie möglich zurückziehen. Der Vietcong rückte damals, wie die Taliban heute, weit schneller vor als von den USA erwartet. Und die korrupte südvietnamesische Marionettenregierung kapitulierte wie diejenige in Kabul. Die Evakuierung von US-BürgerInnen und rund 140 000 vietnamesischen Flüchtlingen gestaltete sich dramatisch und kostspielig. Rund ein halbes Jahrhundert später suchen in Afghanistan wiederum Zehntausende einen Weg ins Exil. Und wie damals wurden auch unter dieser US-Besatzung, die doch eine stabile demokratische Nation aufbauen wollte, Millionen AfghanInnen Opfer interner Vertreibung.

Nach dem Rückzug der US-Truppen aus Vietnam sagte der 33-jährige Joe Biden gegenüber der Tageszeitung «Seattle Daily Times»: «Mir scheint, wir haben eine wichtige Lektion über unbedachte militärische Einsätze im Ausland gelernt.» Welche Lektion war das schon wieder? 2002 stimmte Senator Biden für den unbedachten Einmarsch in den Irak – bevor er diese Offensive ablehnte. Auch befürwortete er die Ausweitung der Mission in Afghanistan, bevor er als Vizepräsident unter Barack Obama zur Beendigung dieses ungewinnbaren Krieges riet. Nun muss er das Kriegsende in Afghanistan, ein Ende mit Schrecken, als Commander in Chief verantworten.

Die Reaktion ist heftig und kommt von vielen Seiten: Es melden sich ExpertInnen zu Wort, die die USA – trotz Korea, Vietnam und dem Irak, trotz gescheiterten Interventionen in Lateinamerika, dem Nahen Osten und Afrika – immer noch für unbesiegbar halten. Schadenfreudige Trump-AnhängerInnen, die vergessen haben, dass es ihr Donald war, der 2020 aus populistischem Kalkül – kostspielige Kriegseinsätze im Ausland sind bei den US-AmerikanerInnen äusserst unbeliebt – das Friedensabkommen mit den Taliban unterschrieb. Gekränkte PatriotInnen, die die US-Präsenz in Afghanistan längst vergessen hatten, aber auf der Weltbühne nicht beschämt werden wollen. «Zivilisierte» WestlerInnen, die einmal mehr glauben, ein fernes Land vor einem «Rückfall in die Barbarei» retten zu müssen.

Unter den KritikerInnen des Rückzugs aus Afghanistan gibt es auch engagierte KämpferInnen für Menschen- und Frauenrechte, die zu Recht die Rückkehr des fundamentalistischen Talibanregimes fürchten. Ihnen gibt die bekannte afghanische Frauenrechtlerin und ehemalige Parlamentarierin Malalai Dschoja in der britischen Internetzeitung «The Independent» zu bedenken: «Die Geschichte zeigt, dass keine Nation einer anderen Nation Befreiung bringen kann – sie kamen aus eigenem Interesse nach Afghanistan.» Sie, das sind unter anderem die Briten, die Afghanistan im 19. und frühen 20. Jahrhundert besetzten. Oder die Sowjets, die in den 1980er Jahren intervenierten. In den letzten zwei Jahrzehnten, sagt Dschoja, hätten die Frauen und die Zivilgesellschaft in Afghanistan dreierlei Feinde gehabt: die Taliban, die Warlords, die sich zuweilen als Regierung tarnten, und die US-Besatzung. Wenn man einen Feind loswerden könne, seien es immerhin nur noch zwei.