Durch den Monat mit Patrícia Melo (Teil 4) : Wie hat sich Ihr Blick auf Männer verändert?

Nr. 34 –

Weil sie Leserin ist, ist sie Autorin geworden: Patrícia Melo übers Recherchieren, die Rückmeldung ihres Verlegers auf ihren Roman und warum der Blick in die Vergangenheit immer wichtig ist.

«Durch meine Literatur hab ich verstanden, dass Gewalt im Ethos der männlichen Gesellschaft strukturell tief verankert ist»: Patrícia Melo.

WOZ: Patrícia Melo, Ihre Romane sind alle in der Gegenwart verankert, und Sie nähern sich den Themen wie eine Journalistin an: Sie recherchieren intensiv vor Ort, interviewen Betroffene, lesen Studien – warum machen Sie daraus schliesslich Literatur?
Patrícia Melo: Anstelle von Reportagen? Weil ich keine Journalistin bin. Die Informationen aus der Realität helfen mir, meine Geschichten zu kreieren. Aber in meinen Büchern ist sehr viel Imagination drin. Die Fakten brauche ich als Ausgangslage, um den Geschichten einen realen Rahmen zu geben. Es gibt in diesem Zusammenhang übrigens eine schöne Anekdote des israelischen Schriftstellers Amos Oz.

Erzählen Sie.
Er sagt: «Was macht einen Apfel zu einem Apfel? Wasser, Erde, Sonne, ein Apfelbaum und etwas Dünger. Wenn du ihn aber isst, ist es etwas ganz anderes.» Und genau das passiert beim Prozess der Fiktion. Ich brauche Fiktion, um meine Geschichten zu erzählen. Ausserdem glaube ich nicht, dass ich mit einer Reportage dieselben Ziele erreichen könnte wie mit meiner Literatur.

Was sind denn Ihre Ziele?
Die Leserinnen und Leser in thematische Diskussionen zu verwickeln, mit meinem aktuellen Buch «Gestapelte Frauen» etwa zum Thema Femizid und Gewalt gegen Frauen – beides noch immer Tabus in unserer Gesellschaft. Wenn du über einen Femizid in der Zeitung liest, kannst du weiterblättern, den Fernseher kannst du ausschalten. Ich glaube an die Macht der Literatur, die dich nachhaltig für ein Thema einnimmt und der du dich nicht entziehen kannst.

Es scheint, dass es noch immer vor allem Frauen sind, die sich öffentlich mit dem Thema Femizid auseinandersetzen und darüber schreiben. Erreichen Sie mit Ihren Büchern auch Männer?
Die Leserinnen und Leser sind für uns Autorinnen ja eine Art metaphysische Figuren – man weiss nicht genau, wer sie sind und was sie über das Buch denken … Mein Schweizer Verleger sagte mir allerdings nach der Lektüre: «Patrícia, du hast meinen Blick auf Männer verändert.» Und das ist interessant, denn ich glaube, die Männer realisieren diese konstant anwesende Gewalt gar nicht.

Woran liegt das?
Mein Buch zeigt, dass diese Gewalt eine reine Männergewalt ist. Doch die erste Reaktion der meisten Männer bei diesem Thema ist: Ich bin nicht diese Art von Mann und bin deshalb auch nicht Teil dieses Kampfs. Für die Gestaltung des Covers habe ich den brasilianischen Künstler Kiko Farkas angefragt. Nachdem er das Buch gelesen hatte, sagte er, er glaube, ich sollte eine Frau anfragen. Doch da insistierte meine brasilianische Verlegerin. Denn das Ganze ist nicht «unser» Ding, es ist eine grössere Angelegenheit, und wir brauchen auch die Männer für diesen Kampf.

Hat die Arbeit an diesem Buch auch Ihren Blick auf Männer verändert?
Nicht dieses eine Buch hat meine Vorstellung von Männern verändert, sondern mein gesamtes literarisches Leben – denn ich habe immer über Gewalt geforscht. Durch meine Literatur hab ich verstanden, dass Gewalt im Ethos der männlichen Gesellschaft strukturell tief verankert ist. Und die Gewalt gegen die Frauen in der brasilianischen Gesellschaft hat ihre Wurzeln in der Kolonisierung und in der gewalttätigen Beziehung, die die Eroberer gegenüber den Indigenen etablierten. Schon damals litten die Frauen am meisten: Sie wurden gekidnappt, vergewaltigt, verkauft, versklavt. Wenn man die Gewalt gegen Frauen in einem Land wie Brasilien anschaut, darf man nie vergessen, dass sie eine lange Geschichte hat. Um zu verstehen, was passiert, muss man immer zurückschauen.

Allerdings haben Sie nicht Geschichte studiert, sondern Literatur. Warum?
Ich komme aus einer Familie, in der Literatur einen sehr hohen Stellenwert hatte. Mein Vater war zwar Zahnarzt, aber er schrieb die Stadtchroniken für die Zeitung unserer Stadt. Meine Mutter war Geschichtsprofessorin an der Uni. Beide waren sehr leidenschaftliche Lesende. An unserem Esstisch war Literatur immer ein Thema, und ich fühle mich sehr glücklich, dass ich Eltern hatte, die ihre sechs Kinder zum Lesen motivierten. Nach dem Studium schrieb ich Drehbücher für Fernsehen und Filme, doch nachdem meine Tochter zur Welt gekommen war, hatte ich die Art und Weise satt, wie wir Drehbuchautorinnen arbeiten mussten.

Was hat Ihnen daran nicht gefallen?
Als Drehbuchautorin bist du wie ein Pferd für den Regisseur – die Idee des Films oder des Programms gehört am Ende ihm. Ich wollte jedoch meine eigene künstlerische Vision umsetzen. Deshalb schrieb ich meinen ersten Roman. Ich hatte Glück, dass ich einen Verlag fand, der mein Manuskript veröffentlichte und ein Honorar bezahlte. Als das Buch schliesslich erschien, hatte ich ein unendlich grosses Gefühl von Freiheit. Denn es wurde mir klar, dass ich fähig war, allein zu arbeiten. Bis heute fühle ich mich in meiner Arbeit extrem frei.

Patrícia Melo (58) hat zwölf Romane und einen Band mit Kurzgeschichten publiziert. Ihr Erstling hiess «Ich töte, du stirbst». Am Samstag, 5. November, liest sie im Volkshaus Basel.