Durch den Monat mit Patrícia Melo (Teil 2): Fürchtet sich Bolsonaro vor der Kunst?
Die Coronapolitik der brasilianischen Regierung komme einem Genozid gleich, sagt die Autorin Patrícia Melo und erzählt, warum sie weiterhin über Brasilien schreiben wird, auch wenn sie in der Schweiz lebt.
WOZ: Patrícia Melo, Sie leben seit mehreren Jahren nicht mehr in Brasilien, sondern in Lugano. Warum kamen Sie in die Schweiz?
Patrícia Melo: Der Hauptgrund war das desaströse Kulturleben in Brasilien. Mein Mann John Neschling ist Dirigent, bis 2016 war er der künstlerische Leiter des Theatro Municipal de São Paulo. In Brasilien gibt es nicht viele Orchester, die er dirigieren könnte, und jenen, die es noch gibt, werden laufend die Budgets gekürzt oder ganz gestrichen. Als sein Vertrag auslief, entschieden wir uns, in die Schweiz zu kommen – mein Mann ist zwar in Brasilien aufgewachsen, hat aber seit 35 Jahren einen Wohnsitz in der Schweiz. Hier, mitten in Europa, hat er genug Arbeit, weil es sehr viele Orchester gibt. Und für mich spielt es keine Rolle, ob ich meine Bücher in der Schweiz oder in Brasilien schreibe.
Was ist mit dem kulturellen Leben in Brasilien passiert?
Die Künstlerinnen und Künstler in Brasilien leiden nicht nur massiv unter der Coronapandemie, die ihr Schaffen praktisch verunmöglicht, sondern auch unter der kulturfeindlichen Politik von Präsident Jair Bolsonaro: Es gibt praktisch keine offizielle Kulturförderung mehr. Bolsonaros Regierung zerstört alles, was unter der letzten Regierung entstanden ist: Zugang zu Kultur für alle, Zugang zu Bildung für alle, soziale Projekte … Zwar mussten sich Künstler in Brasilien auch schon vorher immer wieder neu erfinden, um zu überleben, und sie setzen auch ohne Geld und mit viel Herzblut neue Projekte um. Aber obwohl die Regierung keinen Lockdown verordnet hat, gehen verantwortungsbewusste Leute nicht mehr an Veranstaltungen. Es ist eine extrem schwierige Zeit, um zum Beispiel ein neues Theaterstück zu lancieren.
Sie sagten in einem Interview einmal, jede Art von Kunst sei Widerstand.
Was ich damit meinte, war, dass es bei Kunst nicht um Akzeptanz geht, sondern eben um Widerstand. Allerdings finde ich, dass es grundsätzlich nicht richtig ist, wenn man der Kunst eine Funktion zuspricht. Doch in besonderen Zeiten wie diesen, in denen die Demokratie in Brasilien in grosser Gefahr ist, ist aus meiner Sicht die Kunst der legitime Ort für Widerstand – oder ein Werkzeug, um zu kämpfen.
Unterstützen Bolsonaro und seine Regierung deshalb das Kulturschaffen nicht, weil sie sich vor der Macht der Kunst fürchten?
Nein, weil sie dumme, ignorante und ungebildete Menschen sind, ohne Visionen und Ideen. Das zeigt sich ja auch jetzt in der Pandemie: Bolsonaros Politik ist eine Katastrophe. Er entschied, keinen Lockdown zu machen, weil er negative ökonomische Konsequenzen verhindern wollte. Die Folgen sind bis heute mehr als 550 000 Tote. Jeder in Brasilien hat jemanden in der Familie oder kennt jemanden, der an Covid gestorben ist. Als die Zahl der Toten bei 500 000 lag, sagte ein bekannter brasilianischer Virologe: Wenn Bolsonaro einfach den Empfehlungen der Weltgesundheitsorganisation gefolgt wäre, hätten in Brasilien 400 000 Menschenleben gerettet werden können. Können Sie sich das vorstellen? Was in Brasilien passiert, ist ein Genozid, und Bolsonaro ist verantwortlich dafür!
Glauben Sie, dass er für seine Politik büssen wird, oder wird er nächstes Jahr wiedergewählt?
Ich glaube nicht, dass er wiedergewählt wird. Zurzeit läuft eine parlamentarische Untersuchung zu seiner Coronapolitik. Hinzu kommt, dass seine Beamten in einen riesigen Skandal rund um den Kauf von Impfstoff verwickelt sind. Und es scheint, als ob die Menschen in Brasilien langsam begreifen, was passiert. Es gab grosse Demonstrationen – trotz Corona –, auf denen immer wieder der Slogan zu lesen und zu hören war: «Bolsonaro ist schlimmer als das Virus.» Bolsonaro attackiert unsere demokratischen Werte und macht immer das Gegenteil von dem, was man tun müsste, um die Verbreitung des Virus zu verhindern: Er trägt selber keine Maske, er kritisiert die ganze Zeit die Wissenschaft … Es ist so traurig, und es deprimiert mich. Denn Brasilien ist immer noch mein Land, auch wenn ich nicht mehr dort lebe.
Werden Sie in Lugano weiterhin Romane schreiben, die in Brasilien spielen, oder können Sie sich vorstellen, auch über die Schweiz zu schreiben?
Brasilien ist meine Bürde – ich kann nicht aufhören, über dieses Land, das ich so sehr liebe, zu schreiben. Vielleicht werde ich in ferner Zukunft mal über die Schweiz und unser Leben hier schreiben. Aber im Moment ist es für mich unmöglich, Brasilien einfach den Rücken zuzukehren.
Wäre das für Sie wie ein Verrat?
Ja, ich würde mich als Verräterin fühlen. Denn wenn ich sehe, wie dieses Land von diesem Faschisten zerstört wird, fühle ich mich fast schon verpflichtet, über Brasilien zu schreiben – auch als Akt des Widerstands.
Das nächste Buch von Patrícia Melo (58) erscheint 2022 und handelt von obdachlosen Menschen in Brasilien. Ihr aktuelles Buch «Gestapelte Frauen» ist im Unionsverlag erschienen.