Durch den Monat mit Patrícia Melo (Teil 1): Was hat die Recherche zu Femiziden mit Ihnen gemacht?

Nr. 31 –

Die brasilianische Autorin Patrícia Melo kartografiert mit ihren Büchern die Gesellschaft in ihrem Herkunftsland, und sie beschreibt die Ehe als «eine Art Lizenz zum Töten».

«Eine Journalistin hat für mich im Amazonasgebiet nachgeforscht, da ich ja mittlerweile in Lugano lebe»: Patrícia Melo.

WOZ: Patrícia Melo, Ihre Romane handeln von Gewalt, Armut, Korruption, Drogenhandel, Pädophilie – was fasziniert Sie an diesen Abgründen der brasilianischen Gesellschaft?
Patrícia Melo: Ich glaube nicht, dass ich fasziniert bin, sondern dass ich Angst habe. Mein Schreiben ist immer ein Versuch, die brasilianische Gewalt zu verstehen. Mit meiner Literatur mache ich eine Art Kartografie der brasilianischen Gesellschaft. Denn Gewalt ist in unserer Gesellschaft strukturell verankert und im Alltag extrem präsent – Polizeigewalt, politische Gewalt, Drogengewalt, Rassismus, häusliche Gewalt … Deswegen schreibe ich darüber.

In ihrem neusten Roman «Gestapelte Frauen» schreiben Sie über eine ganz spezifische Form der Gewalt, über Femizid. Was hat Sie zu diesem Thema geführt?
Ich erinnere mich an eine Aussage von Diana Russell, einer Feministin, die ich sehr bewundere. Sie sagte, die Gewalt, mit der Frauen heutzutage konfrontiert würden, sei im Bezug auf Ausmass, Brutalität und Intensität vergleichbar mit dem, was den Frauen in Europa im Mittelalter passierte, während der Inquisition. Und ich glaube, das stimmt. Als ich mit meiner Recherche begann, waren in Brasilien 10 000 Fälle von Femizid vor Gericht hängig. Brasilien hat weltweit die fünfthöchste Femizidrate, pro Tag werden drei Frauen getötet, einfach weil sie Frauen sind, alle acht Minuten wird eine Frau vergewaltigt – und weil es eine hohe Dunkelziffer gibt, sind die tatsächlichen Zahlen wahrscheinlich noch höher. Mir war klar: Um zu verstehen, was in der brasilianischen Gesellschaft passiert, muss man sich mit den Femiziden beschäftigen.

Femizid ist nicht nur ein brasilianisches Problem, sondern ein weltweites. Auch in der Schweiz wird durchschnittlich alle zwei Wochen eine Frau aufgrund ihres Geschlechts ermordet.
Ja, die amerikanische Autorin und Feministin Rebecca Solnit sagt: «Gewalt hat keine ‹race›, keine soziale Klasse, aber sie hat ein Geschlecht: Sie ist männlich.» Und es ist wahr. Deswegen waren bis jetzt auch alle meine Protagonisten männlich, weil mich immer der psychologische Aspekt interessiert hat. Wie und warum wird jemand gewalttätig? «Gestapelte Frauen» ist erst mein zweites Buch mit einer weiblichen Hauptfigur.

Ihre namenlose Protagonistin ist Anwältin und reist aus São Paulo nach Acre, eine Provinz im Amazonasgebiet. Dort nimmt sie als Beobachterin an Gerichtsverhandlungen von Femiziden teil. In einem Büchlein sammelt sie die unglaublich heftigen Mordgeschichten, die sie hört. Diese listen Sie auch in Ihrem Roman auf. Was hat die Recherche zu diesem Thema mit Ihnen gemacht?
Es war meine bisher stressigste Recherche. Allerdings habe ich sie nicht alleine gemacht: Zum ersten Mal war eine Journalistin für mich vor Ort, da ich ja mittlerweile in Lugano lebe. Sie war mein Ohr und mein Auge. Wir sprachen mit Richtern und mit Opfern, die überlebt haben, wir schauten Gerichtsverhandlungen, lasen Reportagen über Femizide und akademische Studien. Erschütternd war für mich die Erkenntnis, dass der Femizid meist das letzte Kapitel einer langen Gewaltgeschichte ist. Oft beginnt es mit verbaler Gewalt, die eskaliert. Dann kommt es zu tätlichen Übergriffen, und wenn die Frau sich entscheidet, den Mann zu verlassen, ermordet er sie. Erschüttert hat mich auch, dass die meisten Frauen von jemandem geschlagen und getötet wurden, dem sie früher vertraut hatten.

«Es ist unser Haus, in dem wir sterben», sagt Ihre Protagonistin, die selber auch einen Femizid in der Familie miterleben musste.
Es war schrecklich für mich, während der Recherche zu sehen, dass so viele Frauen in ihren eigenen vier Wänden sterben: in ihrem Bett, während sie schlafen, in ihrer Küche, während sie kochen … In Brasilien ist die Ehe eine Art Lizenz zum Töten.

Seit 2006 gibt es in Brasilien die «Lei Maria da Penha», ein Gesetz, das laut Uno das drittbeste weltweit zum Schutz von Frauen vor Gewalt ist. Nützt das nichts?
Dank dieses Gesetzes wird häusliche und familiäre Gewalt überhaupt als Straftat behandelt und nicht mehr als Privatangelegenheit abgetan. Maria da Penha war eine Frau, die von ihrem Mann fast zu Tode geprügelt wurde – sie sitzt heute im Rollstuhl. Dank ihrer Initiative wurde dieses Gesetz geschaffen. Davor gab es keine legale Möglichkeit, deinen Mann, der dich vergewaltigt und verprügelt, anzuklagen. Femizide wurden als «Mord aus Leidenschaft» betrachtet, die Männer galten als tragische Helden und wurden vor Gericht freigesprochen. Immerhin: Heute greifen solche Argumentationen zum Glück nicht mehr.

Patrícia Melo (58) lebt seit ein paar Jahren in Lugano. Sie hat mehr als ein Dutzend Romane veröffentlicht und wurde mit dem deutschen Krimipreis sowie mit dem bedeutendsten brasilianischen Literaturpreis ausgezeichnet. Diesen Frühling ist «Gestapelte Frauen» im Unionsverlag erschienen.