Krieg in Tigray: «Abiy agiert aus Verzweiflung»
Zentralismus oder Föderalismus? Im Norden Äthiopiens entlädt sich nicht nur ein Machtkampf zwischen Parteikadern, sondern auch ein Streit über das staatspolitische Fundament. Die Sozialwissenschaftlerin Elleni Centime Zeleke über einen Konflikt, der zu einer komplexen humanitären Krise geführt hat.
WOZ: Frau Zeleke, wohin steuert der Krieg in Tigray derzeit?
Elleni Centime Zeleke: Bereits jetzt handelt es sich um einen ausgewachsenen Bürgerkrieg. Es kämpfen nicht mehr nur die Streitkräfte der Zentralregierung gegen jene der regionalen Regierungspartei TPLF, der Tigray People Liberation Front, auf beiden Seiten sind auch bewaffnete Gruppen aus anderen Regionen involviert. Ich kann nicht einmal alle aufzählen. Mein Eindruck ist, dass die äthiopische Gesellschaft mittlerweile sehr stark militarisiert ist. Nicht nur in Tigray, sondern auch in Amhara, Afar und Oromia. Sehr viele Menschen besitzen eine Waffe und sind gewillt, irgendetwas zu verteidigen.
Was wollen sie verteidigen?
Viele glauben an eine Bedrohung – aber ich bin mir nicht sicher, ob sie selbst genau wissen, worin diese Bedrohung besteht. Im ganzen Land, in Städten und Dörfern, herrscht die Stimmung vor, dass es eine unmittelbare Gefahrenlage gibt. Die Leute scheinen bereit, gegen jeden zu kämpfen, der gerade als Feind wahrgenommen wird. Wobei man auch innerhalb der einzelnen Regionen uneins ist. Ich befürchte daher eine weitere Eskalation.
Geht es dabei um Machtkämpfe, um die politische Verfassung des Landes, oder handelt es sich um einen ethnisierten Konflikt?
Der Konflikt lässt sich schwer charakterisieren, denn er findet auf unterschiedlichen Ebenen statt. Der militärische Konflikt zwischen der TPLF und der Bundesregierung ist wohl tatsächlich einer über die föderalistische Verfassung von 1995, die den einzelnen Regionen grosse Selbstbestimmung zuspricht. Insbesondere in der Hauptstadt Addis Abeba gab es immer schon Akteure, die der Verfassung kritisch gegenüberstanden: Sie habe zu einer «Balkanisierung» des Landes geführt, die die Regionen auseinanderdriften lasse. Sie befürworten eine grössere Einheit, berufen sich auf die 3000-jährige Geschichte des Landes, auf die uralte äthiopisch-orthodoxe Kirche und so weiter. Ich denke aber, dass diese Kritik mit Missgunst formuliert wird: Sie missachtet die grosse, breit abgestützte intellektuelle Auseinandersetzung, im Zuge derer die Verfassung damals entstanden ist.
Das war während der ersten Regierungsjahre der EPRDF, einer Koalition von vier regionalen Parteien. Die TPLF hatte diese gegründet und bis 2018 dominiert.
Deshalb wird Tigray als jene Region dargestellt, die am stärksten für die aktuelle Verfassung gekämpft hat. In Addis Abeba gilt die TPLF bei vielen schon lange als eine Feindin der Bundesregierung. Unter dem Druck der mehrjährigen Proteste in der Region Oromia trug sie 2018 die Wahl Abiy Ahmeds zum neuen Ministerpräsidenten mit – lehnte in der Folge aber dessen Abkehr vom multinationalen Föderalismus ab. Als Abiy Ende 2019 die EPRDF in die neu gegründete Prosperity Party überführte, trat die TPLF dieser nicht bei; die Spannungen nahmen zu, und als Tigray vor einem Jahr als einzige Region eigenmächtig Parlamentswahlen abhielt, folgte im November der Einmarsch der äthiopischen Armee.
Wenn es also um die staatspolitische Zukunft des «Vielvölkerstaats» Äthiopien geht: Ist es dann zugleich auch ein ethnischer Konflikt?
Wie gesagt, eigentlich dreht er sich um die Form des multinationalen Föderalismus und um die wirtschaftspolitische Zukunft Äthiopiens. Sowohl die TPLF als auch die EPRDF entstammen einer sehr linken Tradition. Zu dieser hat sich Abiy ablehnend geäussert, wie auch zur marxistischen StudentInnenbewegung der sechziger und siebziger Jahre, von der die linke Tradition bis heute wesentlich geprägt ist. Über solche Inhalte wird jedoch gar nicht gestritten – stattdessen dreht sich die Debatte darum, dass die TPLF eine spaltende Organisation sei; dass sie jahrelang unter dem Vorwand des Föderalismus alle Macht im Land an sich gerissen habe, während die Bevölkerung unter ihrer Repression gelitten habe. Dabei werden alle Menschen in Tigray als Verbündete der TPLF dargestellt und die ÄthiopierInnen in allen Regionen auf Basis ihrer ethnischen Identität mobilisiert.
Welche Rolle spielten bei dieser Entwicklung die regierungskritischen Proteste in Oromia, die dem Machtwechsel von 2018 vorausgegangen waren?
Ich finde die Proteste in vielerlei Hinsicht noch immer erstaunlich. Damals ging es um Fragen der Landverteilung und darum, was es in einem Land, in dem mit autoritären Mitteln eine rasante wirtschaftliche Entwicklung durchgeboxt wird, bedeutet, ein Bauer oder eine Bäuerin zu sein. Leider wurde die Kritik an der Regierung aber auch durch die Linse der Ethnizität formuliert. Das hat durchaus eine Vorgeschichte, war der moderne äthiopische Staat doch aus dem Kaiserreich hervorgegangen, in dem die amharische Sprache und das orthodoxe Christentum dominierten. Die Oromo hatten also lange Grund, sich in der nationalen Erzählung marginalisiert zu fühlen. Ich glaube aber, dass sich die Anführer der Proteste letztlich auch darum ausspielen liessen: Anstatt eine Auseinandersetzung über die Ursachen der Proteste erhielten sie mehr Repräsentation in der Bundesregierung.
So kam Abiy Ahmed an die Macht …
… und zwar gewissermassen als zufälliger Ministerpräsident. Innerhalb der EPRDF wurde er als unproblematischer Vertreter der Oromo-Partei an die Spitze gewählt – auch von den Vertretern der TPLF. Abiy kommt zwar aus Oromia, war aber kein Protestführer. Er war einfach plötzlich da.
Drei Jahre später gilt er als Hauptverantwortlicher eines Krieges, der schreckliche Formen angenommen hat. Aus dem abgeschnittenen Tigray gelangen Berichte von Massakern, Massengräbern und Vergewaltigungen nach aussen, während Millionen Menschen eine Hungersnot droht, weil die Regierung Hilfsgütertransporte blockiert. Agiert Abiy dermassen brutal, weil er sich in einer Position der Stärke oder der Schwäche befindet?
Ich glaube, er agiert aus einer Position der Schwäche und der Verzweiflung. Er versucht, sich selbst zu retten – aber auch ein Projekt, das er 2018 ins Leben rief: Einerseits möchte er ein einheitliches Äthiopien schaffen, und andererseits ist es ein Projekt der ökonomischen Liberalisierung. In der aktuellen Instabilität lässt sich das kaum umsetzen; die Privatisierung der Telekommunikationsbranche ist zwar weiterhin geplant, aber etwa jene der Elektrizitätswerke und der nationalen Fluggesellschaft sind auf Eis gelegt. Dieses Projekt, mit dem er sich vom vorangegangenen Modell des autoritären Entwicklungsstaats abheben wollte, möchte er unter allen Umständen weiterführen.
Abiys Vision war wohl auch der Grund, weshalb er nach seiner Wahl umgehend zum Liebling der liberalen Welt wurde?
Auf jeden Fall. Äthiopien war ja eine Art Anomalie auf dem Kontinent. Während die meisten anderen Länder nach der Unabhängigkeit irgendwann einen neoliberalen Weg beschritten, verfolgte es eine staatlich gelenkte Entwicklung. Als grösstenteils landwirtschaftlich geprägtes Land stellte sich Äthiopien Fragen der agrarischen Entwicklung, diskutierte ausführlich, ob grossflächige marktorientierte Landwirtschaft oder kleinbäuerlicher Anbau sinnvoller seien und welche ökonomischen und demografischen Folgen von welcher Methode zu erwarten seien. Dass Abiy diese Debatten hinter sich lassen und Äthiopien in eine neoliberale Modernität führen wollte, stiess auf internationalen Zuspruch. Dass er bereit war, dafür einen Genozid anzuzetteln, hat natürlich niemand erwartet.
Wohl auch nicht, dass sein Friedenspakt mit Eritrea – für den Abiy den Friedensnobelpreis erhielt – darin münden würde, dass nun eritreische Truppen in Tigray mitkämpfen. Wie gross ist Abiys Rückhalt in Addis Abeba mittlerweile?
Das lässt sich sehr schwer sagen. In der Hauptstadt selbst wird er noch immer ziemlich beliebt sein, sie ist sehr urban und international, sein Projekt findet dort grosse Unterstützung. In den ländlichen Regionen dürfte das anders sein. Aber die dortige Bevölkerung wird von aussen kaum wahrgenommen. Abiys Prosperity Party hat die Wahlen im Juni zwar klar gewonnen, aber das heisst nicht viel. Ein Fünftel der Wahlbevölkerung konnte aus Sicherheitsgründen nicht wählen. Und beliebte Oppositionelle, etwa in Oromia, haben die Wahl boykottiert – oder sie sassen im Gefängnis.
Gemeinsam mit fast sechzig afrikanischen Intellektuellen haben Sie im August einen öffentlichen Aufruf gestartet: Äthiopien stehe «am Abgrund», heisst es darin, und es wird ein politischer Dialog gefordert. Wer soll sich daran beteiligen?
Zunächst natürlich die Konfliktparteien, also vor allem die TPLF und die Bundesregierung. Aber auch die AU, die Afrikanische Union, und die regionale Staatengemeinschaft IGAD müssen sich engagieren – zum einen als Mediatoren, aber zum anderen auch, indem sie politischen Druck auf die Kriegstreibenden aufbauen. Vor allem die AU muss jetzt ihre Verantwortung wahrnehmen: Sie wurde einst auch gegründet, um zur Lösung von Konflikten auf dem Kontinent beizutragen. Als panafrikanische Institution müsste sie die Konfliktparteien an einen Tisch bringen – im Bewusstsein darum, dass diese jeweils eine Anhängerschaft haben, deren Bedürfnisse und Unzufriedenheiten gleichermassen ernst zu nehmen sind. Bislang wurde der Friedens- und Sicherheitsrat der AU diesem Auftrag leider überhaupt nicht gerecht.
Angesichts der Heftigkeit des Konflikts scheint es gegenwärtig schwer denkbar, dass bald eine Entschärfung eintritt. Wohin blicken Sie, um dennoch Hoffnung zu schöpfen?
Letztlich frage ich mich, wie weit dieser Krieg überhaupt noch gehen kann – allein mit Blick auf die Ressourcen. Den Konfliktparteien müssen irgendwann die Mittel ausgehen, also Geld und Kriegsmaterial. Ich hoffe, dass sich dann die gemässigten Stimmen in allen Lagern durchsetzen und einen Dialog erwirken werden. Ich glaube auch, dass im Verborgenen viel Energie darin investiert wird. Und obwohl viele ÄthiopierInnen durch die letzten Monate militarisiert wurden, denke ich, dass die meisten schlussendlich doch vor allem ihrem Leben nachgehen, ihr Feld bewirtschaften und ihre Familie ernähren wollen. Trotz aller kriegerischen Auseinandersetzungen hat Äthiopien eine lange Geschichte der Staatlichkeit und der Diversität, auf die sich die Menschen berufen können. In dieser Tradition des multiethnischen und multireligiösen Zusammenlebens, der Nachbarschaftlichkeit und der Gastfreundschaft finde ich Hoffnung.
Elleni Centime Zeleke
Die in Äthiopien geborene Sozial- und Politikwissenschaftlerin Elleni Centime Zeleke ist Assistenzprofessorin in African Studies an der Columbia-Universität in New York. Ihr erstes Buch, «Ethiopia in Theory» (2019), befasst sich mit der äthiopischen StudentInnenbewegung der sechziger und siebziger Jahre.