Friedensprozess in Äthiopien: «Warum keinen Versuch wagen?»

Nr. 45 –

Hunderttausende Todesopfer hat der Krieg in Tigray schon gefordert. Letzte Woche unterzeichneten die Kriegsparteien ein Waffenstillstandsabkommen. Ob es gelingt, Frieden zu schaffen, bleibt aber offen.

«Zentimeterweise» arbeite man sich vorwärts, sagte Uhuru Kenyatta am Montag in Nairobi. Als Mediator traf sich Kenias ehemaliger Präsident dort mit den Vertretern der zwei wichtigsten Parteien im äthiopischen Bürgerkrieg: der Bundesregierung auf der einen Seite und der TPLF (Tigray People’s Liberation Front), der Regierungspartei der umkämpften nordäthiopischen Verwaltungsregion Tigray, auf der anderen Seite.

Etwas überraschend haben die beiden Kriegsparteien am Mittwoch vergangener Woche im südafrikanischen Pretoria ein Waffenstillstandsabkommen unterzeichnet, das jetzt in Folgegesprächen ausgestaltet werden soll. Er sei voller Hoffnung, dass schon das nächste Treffen in Tigrays Hauptstadt Mekele stattfinden werde und dass man schlussendlich «gemeinsam in Addis Abeba feiern» könne, sagte Kenyatta.

Einseitige Zugeständnisse

Nüchtern betrachtet, bleiben die Erfolgsaussichten allerdings überschaubar in diesem Krieg, der seit seinem Ausbruch vor ziemlich genau zwei Jahren schon viele brüske Wendungen genommen und in Tigray und in den benachbarten Regionen Amhara und Afar unfassbar grosses Leid verursacht hat. Verschiedene Schätzungen gehen von einer halben bis zu einer ganzen Million getöteten Menschen aus, hinzu kommen zwei Millionen Vertriebene – und schlimmste Kriegsverbrechen, die gemäss Uno von allen beteiligten Seiten begangen wurden. Berichte zeugen von Massakern an der Zivilbevölkerung, von sexueller Gewalt und Hunger als essenziellen Kriegsstrategien.

Tigray steht unter einer rigiden Blockade; die Region ist über weite Strecken abgeschottet von der Aussenwelt, von Telekommunikation, Bankwesen und journalistischer Berichterstattung und auch von der Lieferung von Nahrungsmitteln, medizinischen Gütern und Treibstoff. Millionen Menschen sollen von einer Hungersnot bedroht sein.

Äthiopischer Konfliktherd

Karte von Äthiopien
Karte: WOZ


Nach einem mehrmonatigen «humanitären Waffenstillstand» brachen die Kämpfe im August wieder mit voller Wucht aus; eine Verhandlungslösung schien in weiter Ferne. Bis unter der Leitung des nigerianischen Mediators Olesegun Obasanjo die jüngsten Gespräche aufgenommen wurden. Sie dauerten länger als geplant, und sie brachten weiterreichende Resultate als erwartet. Zumindest auf dem Papier sieht das Abkommen von Pretoria einiges vor, das wie ein Ausweg aus der katastrophal verfahrenen Situation klingt: So sollen etwa «Rechenschaft und Gerechtigkeit» gewährleistet werden, von Versöhnung und Wiederaufbau ist die Rede.

Damit solche Ankündigungen nicht zu leeren Floskeln verkommen, sind viele praktische Schritte nötig – und diesen stehen enorm hohe Hürden im Weg. Zwar sieht das Abkommen verblüffende Zugeständnisse vor, dies aber insbesondere vonseiten der TPLF: Sie hat sich bereit erklärt, ihre Soldat:innen innert eines Monats komplett zu entwaffnen. Die Partei anerkennt, dass es in Äthiopien nur eine einzige, nämlich die föderale Armee geben soll, die in Tigray die volle territoriale Kontrolle übernimmt – und sie verspricht dieser und weiteren Regierungsinstitutionen «einen zügigen, reibungslosen, friedlichen und koordinierten Zugang nach Mekele».

Im Abkommen ist die Rede von Versöhnung und Wiederaufbau.

Die Regierung von Premierminister Abiy Ahmed verpflichtet sich zu weit weniger einschneidenden Schritten: Sie soll die Kampfhandlungen gegen die TPLF einstellen und deren Status als terroristische Organisation aufheben. Sie soll zudem ihre Staatsaufgaben in Tigray wiederaufnehmen sowie humanitäre Unterstützung in der Region ermöglichen und auch selber leisten.

Es ist vor allem die Einseitigkeit des Abkommens, die überrascht. Von der TPLF, die bis zur Amtsübernahme von Abiy 2018 die dominierende Kraft innerhalb des multinationalen Föderalismus Äthiopiens war, wurde weder militärisch noch staatspolitisch eine solche Nachgiebigkeit erwartet. Nun hat deren Delegierter Getachew Reda ein Dokument unterzeichnet, das in den Augen vieler Beobachter:innen weniger als Übereinkunft als vielmehr als eigentliche Kapitulation zu interpretieren ist.

So erklärt sich die TPLF darin etwa auch dazu bereit, bald Wahlen in Tigray abhalten zu lassen. Obwohl sich der Krieg ja genau daran entzündete, dass dort vor zwei Jahren Regionalwahlen stattfanden – gegen den Willen Abiys, der im ganzen Land angeordnet hatte, diese aufgrund der Pandemie zu vertagen. Damals wurde die TPLF mit überwältigender Mehrheit gewählt. Mit dem jetzigen Bekenntnis zu Neuwahlen delegitimiere sie faktisch den damaligen Wahlsieg und damit auch ihren eigenen Machtanspruch, stellen Kritiker:innen fest.

Streitpunkt West-Tigray

Wie gross der Rückhalt für das Abkommen in der kriegsgeschundenen Bevölkerung vor Ort tatsächlich ist, lässt sich nur schwer eruieren. Zumindest in der Diaspora wird aber vielerorts wütende Verzweiflung darüber laut, dass die Menschen in Tigray bald unbewaffnet und schutzlos der Regierung ausgeliefert sein könnten – und deren Entscheidungsträgern völlige Straffreiheit winke. Als würde er fast schon um Verständnis flehen, schrieb Getachew Reda, der TPLF-Delegierte, auf Twitter: «Wenn ein Friedensabkommen unser Überleben sichern kann, warum sollten wir es nicht damit versuchen?!»

Um dem Abkommen eine echte Chance zu geben, müsste die Bundesregierung die gemachten Versprechen rasch umsetzen. Unmittelbar nach der Unterzeichnung gelangten jedoch weiterhin keine neuen Hilfsgüter nach Tigray, und Berichten zufolge flog die Luftwaffe trotz des vereinbarten Waffenstillstands Bombenangriffe auf mehrere Städte. Und selbst wenn Abiy seinen Teil der Vereinbarungen tatsächlich erfüllen will: Es ist zweifelhaft, ob er dazu auch wirklich in der Lage ist. Denn bereits seit Beginn kämpfen in diesem Krieg auch eine ganze Reihe regionaler Milizen und, ganz entscheidend, das Nachbarland Eritrea. Dieses wird im Abkommen nicht explizit erwähnt, dürfte aber damit gemeint sein, dass das Land vor «ausländischen Übergriffen» zu schützen sei.

Noch immer besetzen eritreische Streitkräfte Teile Tigrays, genau wie auch Milizen aus der benachbarten Region Amhara. Beide sind bislang Verbündete Abiys, werden sich von diesem aber schwerlich von ihren eigenen Zielen abbringen lassen: Eritreas Machthaber Isayas Afewerki strebt nach der vollständigen Eliminierung der TPLF, des jahrzehntealten Erzfeinds. Und die politische Elite Amharas beansprucht, dass der westliche, landwirtschaftlich bedeutsame Teil Tigrays aus historischen Gründen unter dem Namen Welkait der Region Amhara zuzusprechen sei. Gemäss Berichten von Amnesty International und Human Rights Watch haben amharische Milizen dort ethnische Säuberungen vollzogen. Und es fragt sich, wie es der Regierung gelingen soll, deren Präsenz im Westen Tigrays zu beenden – sofern sie dies denn auch tatsächlich beabsichtigt.

Und noch viel mehr fragt sich, wie sich die versprochene Aufarbeitung des Krieges, in dem Städte und Dörfer zerstört, Menschen vertrieben und aussergerichtlich hingerichtet, Kinder rekrutiert und Frauen und Mädchen massenhaft vergewaltigt wurden, unter den gegebenen Bedingungen umfassend und ausgeglichen umsetzen lässt. Gemäss Abkommen soll dies unter Einbezug eines Gemeinschaftsausschusses geschehen, an dem sich auch die nordostafrikanische Staatengemeinschaft Igad beteiligt und der von der Afrikanischen Union präsidiert wird, die ein «Team afrikanischer Expert:innen» bereitstellen soll. Allen Zweifeln zum Trotz bleibt zu hoffen, dass damit ein baldiges Ende der humanitären Katastrophe näher rückt.