Äthiopischer Bürgerkrieg: «Wir kämpfen, egal was er sagt»
Nachdem sich das Blatt wieder zugunsten der Regierungstruppen gewendet hat, will Premierminister Abiy Ahmed die Gewalt mit einem «nationalen Dialog» beenden. Doch ein Besuch im kriegsversehrten Bundesstaat Amhara zeigt, wie weit das Land von einer Versöhnung derzeit entfernt ist.
Genet Amare, 28 Jahre alt, sitzt auf einem gelben Plastikstuhl in ihrem Haus in der Kleinstadt Aina im Norden Äthiopiens. Sie hält das in einen vergoldeten Rahmen eingefasste Bild eines ernst dreinblickenden jungen Mannes im Arm und fragt sich: Was wäre, wenn? Was wäre, wenn die Regierungstruppen da gewesen wären, um sie zu verteidigen? Was wäre, wenn sie nicht im Haus geblieben wäre, um ihr Hab und Gut zu schützen? Was wäre, wenn ihr Mann Alebachew Fiseha nicht krank im Bett gelegen hätte, als die Rebellen kamen? Wäre er dann noch am Leben?
Amare trägt einen schwarzen Schleier, sie hat die Haare kurz geschoren, wie es üblich ist bei den Amhara-Frauen, wenn ein Familienangehöriger stirbt. Sie spricht leise, flüstert fast, wenn sie ihre Geschichte erzählt.
Ende November seien die Rebellen der Befreiungsfront von Tigray (TPLF) zum zweiten Mal in ihre Heimatstadt im Bundesstaat Amhara eingefallen. Während sie ihre sechs jüngeren Geschwister und ihren Sohn an einem sicheren Ort versteckt hatte, hätten sie und ihr Mann, ein 37-jähriger Händler, das Haus schützen wollen. Vergebens. Fünf oder sechs Rebellen seien in das Haus eingedrungen. Weil ihr Mann krank im Bett lag, hätten sie ihn für einen verwundeten Kämpfer der Amhara-Spezialeinheiten gehalten und ihn erschossen. Kurz darauf sei eine zweite Gruppe gekommen, sie hätten hundert von den Benzinkanistern geraubt, mit denen ihr Mann gehandelt hatte, sowie Geld und den gesamten Schmuck der Familie. «Wir haben nichts mehr, mein Mann ist tot. Wir wissen nicht mehr, wie wir weitermachen sollen», flüstert Amare.
Weihnächtliche Friedensgesten
Zwei Monate ist das jetzt her. Kurz zuvor hatte die äthiopische Armee eine gross angelegte Offensive gestartet, um die Rebellen aus den Bundesstaaten Amhara und Afar zurück nach Tigray zu treiben, wo der Krieg im November 2020 begonnen hatte. Ein Krieg, der in den vergangenen Monaten auch immer tieferen Hass zwischen den mehr als achtzig Bevölkerungsgruppen des Landes gesät hat. Vor allem im Norden, zwischen den Amhara, der zweitgrössten Gruppe, und den Tigray – die bloss sechs Prozent der äthiopischen Bevölkerung ausmachen, aber bis 2018 mit der TPLF 27 Jahre lang die Regierungskoalition in der Hauptstadt Addis Abeba dominiert hatten.
Damit war Schluss, als Abiy Ahmed, Angehöriger der grössten Bevölkerungsgruppe der Oromo, den Vorsitz der Regierungskoalition übernahm. Ende 2019, im zweiten Amtsjahr als Premierminister, löste er die Koalition auf und gründete stattdessen die «Wohlstandspartei», versuchte die Befugnisse der Zentralregierung zu stärken und das ethnoföderale System aufzulösen, das jahrelang den Staat organisiert und den Bevölkerungsgruppen in ihren Bundesstaaten besondere Autonomien und Rechte zugestanden hatte. Ein Vorhaben, das die TPLF «illegal und reaktionär» nannte.
Der Streit eskalierte: Ohne Einverständnis der Regierung liess die TPLF Regionalwahlen in Tigray abhalten. Wenig später wurden Lager der äthiopischen Armee in Tigray angegriffen, was Abiy als Vorwand nutzte, um seine Truppen zu einer – wie er sagte – «Rechtsdurchsetzungsoperation» in den Norden zu schicken.
Seitdem sind Zehntausende Menschen getötet worden. Laut Uno-Angaben wurden mindestens zwei Millionen vertrieben, Hunderttausende leiden in Tigray aufgrund des Krieges und einer «faktischen humanitären Blockade» durch die Regierung Hunger. Letzten November waren die Rebellen bis 180 Kilometer an die Hauptstadt Addis Abeba herangerückt. Doch inzwischen haben die Regierungstruppen weite Teile des Landes zurückerobert.
Am vergangenen Wochenende, am 6. Januar, dem Abend des äthiopisch-orthodoxen Weihnachtsfests, hat Abiy Ahmed schliesslich angekündigt, einige politische Gefangene freizulassen: darunter den TPLF-Mitgründer Sebhat Nega sowie mehrere oppositionelle Oromo-Aktivisten. Er wolle einen «nationalen Dialog» starten, um «den Weg für eine dauerhafte Lösung der Probleme Äthiopiens auf friedliche, gewaltfreie Weise» zu ebnen, wie er in einem Statement verlauten liess. Aber kann es ein Land schaffen, nach vierzehn Monaten brutalem Bürgerkrieg einfach so zur Normalität zurückzukehren? Können Menschen vergeben, die in diesem Krieg alles verloren haben?
Jahrelange Aufarbeitung
Am Morgen vor Abiys Aufruf zur Versöhnung: Eukalyptusbäume säumen die Berghänge neben der Strasse, die nach Aina führt, eine Kleinstadt mit etwa 8000 Einwohner:innen im amharischen Hinterland. Langsam trottende Maultiere transportieren bei Sonnenaufgang Wasser in gelben Kanistern vom Fluss in die Stadt. Müde Soldat:innen der Amhara Special Forces – der Sicherheitseinheiten des Bundesstaats – in beigem Flecktarn und mit umgehängten Kalaschnikows schlendern die Hauptstrasse entlang. Am Himmel ziehen schwarz-weisse Adler lautlos ihre Kreise. Fast wirkt Aina an diesem Morgen friedlich. So, als hätte der Krieg einen Bogen um die Stadt gemacht. Dass der Schein trügt, merkt man spätestens, sobald man das Rathaus erreicht.
Das Metalltor ist eingedrückt, die Flure des Gebäudes sind bedeckt mit herausgerissenen Akten, Büchern und Wandplakaten. Die Büros sind verwüstet, die Computer zerstört. Das Vorzimmer des Bürgermeisterbüros ist mit Parolen auf Tigrinya beschmiert.
«Es wird Jahre dauern, das alles wieder in Ordnung zu bringen», sagt Shambel Beset. Der 33-Jährige ist der Gemeindevorsteher von Aina. Vor ihm auf dem Tisch stehen zwei kleine Äthiopienfähnchen an umgeknickten Plastikstängeln, hinter ihm an der Wand hängt ein buntes Poster mit der heiligen Gottesmutter Maria. «Die Tigrayer haben geplündert, gemordet und die Menschen in den Hunger getrieben», erzählt Beset. Dabei hätten sie niemals gedacht, dass die Rebellen sich überhaupt in ihre Stadt verirren würden. «Aina ist kein strategischer Ort», sagt Beset. Und trotzdem seien sie zweimal für einige Tage eingefallen: einmal Anfang September und dann wieder Ende November.
Noch immer versucht Shambel Beset, Bilanz zu ziehen und den Schaden zu bemessen. 33 Frauen hätten sich bislang gemeldet, die von den TPLF-Kämpfern vergewaltigt worden seien. Vierzehn Zivilist:innen seien ermordet worden. «Es hat den Anschein, als wollten sie ethnische Säuberungen an uns Amhara betreiben», sagt Beset.
Wie so viele Schilderungen vom Krieg in Amhara lassen sich auch jene von Shambel Beset und Genet Amare nicht letztgültig verifizieren, weil Beweise wie Videoaufnahmen oder Fotos fehlen. Weil nicht viel mehr bleibt als die Erinnerungen der Betroffenen. So besteht immer auch das Risiko, ein verzerrtes Bild dieses Krieges zu zeichnen: Aufgrund der Reisebeschränkungen durch die Regierung und wegen der gekappten Internetverbindung ist es nicht möglich, mit der Gegenseite zu sprechen. Mit den Menschen in Tigray, die gegenüber Uno- und Menschenrechtsorganisationen von Verbrechen berichteten, die die äthiopischen Streitkräfte und ihre Verbündeten von der eritreischen Armee begangen hätten. Laut Angaben der Nachrichtenagentur Reuters sollen erst vergangene Woche 56 Menschen bei Luftangriffen der Regierungstruppen im Nordwesten Tigrays getötet worden sein und am Montag dieser Woche im Zentrum der Region erneut 17.
In der Kleinstadt Aina wird in diesen Tagen deutlich, welch tiefe Gräben der brutale Bürgerkrieg, der von der Regierung über Monate befeuert wurde, aufgerissen hat. Wie langfristig und schwerwiegend seine Folgen sind – und wie schwierig es für den Premierminister werden wird, der 2019 für seine Friedensbemühungen im Konflikt mit dem Nachbarland Eritrea noch den Nobelpreis verliehen bekommen hat, das Land wieder zu versöhnen.
«Den Tigrayern kann man nicht trauen, wir müssen jederzeit bereit sein, uns selbst zu verteidigen», sagt Balemual Awoke. Er ist 21, hat kurze Rastas und einen dünnen Oberlippenflaum, und um seinen Hals baumelt an einer Schnur eine goldene Patronenhülse. Auch er kommt aus Aina. Doch als die TPLF im September sein Dorf überfiel, seiner Familie Handys, Fernseher und Schmuck stahl, da beschloss er, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Er zog von zu Hause aus, um sich der Fano anzuschliessen, einer berüchtigten Amhara-Miliz, von der sich die Menschen erzählen, dass sie schon in den 1930er Jahren geholfen haben soll, die Invasion der italienischen Faschisten zurückzuschlagen. Noch vor wenigen Monaten wollte Abiy die Miliz zerschlagen und liess ihre Anführer verfolgen – heute kämpft sie Seite an Seite mit der Regierung gegen die TPLF.
Das Vertrauen verloren
Das Treffen mit Balemual Awoke findet sechzig Kilometer südlich von Aina statt, auf dem Gelände des Kindergartens von Lalibela, einer kleinen, aber berühmten Stadt mit etwa 17 000 Einwohner:innen. Fast fünf Monate hatte die TPLF die Weltkulturerbestätte mit ihren im 12. und 13. Jahrhundert errichteten Felsenkirchen besetzt gehalten. Nur durch ein göttliches Wunder und das Wirken der Priester sei die Stadt vor Zerstörung bewahrt worden, erzählen sich die Menschen.
Jetzt campieren hier 300 Kämpfer:innen, allesamt Freiwillige. Unter ihnen Bauern, Schülerinnen, Psychologiestudenten, Hausfrauen und Programmierer. Manche tragen alte Militärklamotten, andere Hemden oder Fussballtrikots. Wer eine Waffe besitzt, hat sie mitgebracht, viele haben selbst Angehörige im Krieg verloren. Alle verbindet ein Ziel: die Amhara zu verteidigen, auch wenn die Regierung sie im Stich lasse.
«Die Tigrayer rekrutieren Tausende neue Kämpfer, und an der Grenze zwischen Amhara und Tigray braut sich ein neuer Krieg zusammen», sagt Menber Alemu. Er ist 31 Jahre alt und hat vor dem Krieg seinen Master in Psychologie gemacht. Heute führt er die Fano in Lalibela an. Was sagt er zu Abiys Friedensbemühungen? «Ich bin schockiert, dass er den TPLF-Führer Sebhat Nega freilässt. Er ist einer der Hintermänner dieser Teufelstruppe», so Alemu. Zwei enge Freunde von ihm hätten ihr Leben in diesem Krieg geopfert. «Es ist so, als würde Abiy uns verhöhnen, als hätte er den Krieg bewusst genutzt, um die Amhara zu zerstören», fährt er fort. «Ich habe mein Vertrauen in ihn komplett verloren. Wir werden weiterkämpfen, egal was er sagt.»
Viele internationale Beobachter:innen sind der Meinung, dass Abiys Vorstoss zur Versöhnung Monate zu spät kommt. Und dass sein inszenierter Weihnachtssegen lediglich ein Vorwand ist, um einen Krieg beizulegen, der das Land in eine wirtschaftliche Krise gestürzt hat, die sich seine Regierung nicht mehr länger leisten kann.
In Amhara hingegen herrscht eine andere Vermutung vor. Insbesondere durch die Freilassung der Oromo-Aktivisten fühlten sich viele Amhara verraten, sagt der Soziologe Mehdi Labzaé. In ihren Augen verfolge der Premierminister ein ganz eigenes Motiv: «Sie fühlen sich bestätigt in ihrem Verdacht, dass Abiy den Krieg nutzen wollte, um gegen die Amhara vorzugehen und so die Zentralregierung ‹oromisieren› zu können», so Labzaé. Immer wieder höre man aus Kreisen der Amhara Special Forces, dass es Pläne für einen Putschversuch in naher Zukunft gebe. Sie bestätigen damit den Eindruck, den die Reise durch den kriegsversehrten Bundesstaat Amhara vor allem hinterlässt: Auch nach vierzehn Monaten ist der äthiopische Bürgerkrieg noch lange nicht zu Ende, die Versöhnung ganz weit weg.