Äthiopien: Es kann nur einen König geben
Seit eineinhalb Jahren tobt der Bürgerkrieg in Äthiopien bereits. Während Premierminister Abiy Ahmed Ethnien gegeneinander aufhetzt, kämpfen die Menschen ums wirtschaftliche Überleben.
Menber Alemu geht nicht mehr ans Telefon. Wir hatten uns letzten Dezember in Gaschena im Bundesstaat Amhara kennengelernt. Kurz zuvor hatten Regierungstruppen die Stadt von den Rebellen der Befreiungsfront von Tigray (TPLF) zurückerobert – gemeinsam mit verbündeten Amhara-Milizen. Alemu führte eine dieser «Fanos» genannten Milizen der Volksgruppe der Amharen. Über Ministerpräsident Abiy Ahmed sagte er damals: «Der Führer Äthiopiens ist auch unser Führer.»
Vor ein paar Tagen erschien auf Twitter ein Video von Alemu, wie er im Flecktarn inmitten einer Menschentraube wütend in die Kamera ruft: «Jene, die die Fanos verfolgen, führen ein rassistisches System. Sie sind Betrüger, die ihre Sachen gepackt haben und weggerannt sind, weil sie glaubten, dass die TPLF angreift.» Alemus Botschaft gilt Ministerpräsident Abiy, dessen Truppen zuletzt Amhara-Milizen angegriffen und zerschlagen haben – an deren Seite sie noch vor wenigen Wochen gekämpft hatten.
4000 ethnische Amharen, darunter auch Journalisten und ein Armeegeneral, wurden dabei seit Ende Mai festgenommen. Ob auch Menber Alemu unter ihnen ist, bleibt ungewiss. Sicher ist: Die Verbündeten von einst sind innerhalb weniger Monate zu erbitterten Feinden geworden.
Als der Bürgerkrieg im November 2020 begann, schienen die Fronten klar: auf der einen Seite die Tigray Defense Forces (TDF), der militärische Zusammenschluss der Parteien des nördlichen Bundesstaats Tigray, dominiert von der TPLF; auf der anderen Seite die äthiopische Regierung und amharische Milizen, gemeinsam mit den Truppen des Verbündeten Eritrea. Seither wurden Zehntausende Menschen ermordet, in Tigray sind Millionen von einer Hungersnot bedroht; infolge der durch den Konflikt verursachten Wirtschaftskrise kämpfen unzählige Menschen ums Überleben.
Im ganzen Land stehen sich nun wechselnde Militärallianzen gegenüber. Mittendrin Premierminister Abiy Ahmed, der mal gleichgültig, mal überfordert zu agieren scheint. «Abiy versucht, sich durch ein Chaos zu manövrieren, das er teilweise mitverursacht hat und in dem ihn die meisten Gruppen als Feind sehen», sagt Menschenrechtsanwalt Zola Moges, der für Abiy Ahmeds Wohlstandspartei im Regionalparlament von Amhara sitzt.
Rütteln an Abiys Thron
«Seit Beginn des Krieges schürt Abiy jenen Ethnonationalismus, gegen den er sich bei Amtsantritt noch klar ausgesprochen hatte», sagt der französische Soziologe Mehdi Labzaé, der zuletzt am Centre français des études éthiopiennes in Addis Abeba geforscht hat. «Entlang dieser ethnischen Linien lassen sich die Menschen am schnellsten mobilisieren.»
Tigrayer:innen wurden aufgrund ihrer Ethnie in weiten Teilen des Landes verfolgt und eingesperrt. Gleichzeitig hat Abiy Amhara-Milizen wie die Fanos aufgerüstet, damit sie die tigrayischen Kräfte bekämpfen können. «Die Taktik war zum Scheitern verurteilt», sagt Menschenrechtsanwalt Moges.
Seitdem die Regierung Anfang 2022 unter anderem hochrangige TPFL-Mitglieder freigelassen hat, gebe es nun viele bewaffnete Gruppen, die der Regierung misstrauten, sagt Moges. Ein Vorwurf, den man im Land oft hört: Abiy habe die TDF benutzt, um die Amharen zu schwächen und so gleichzeitig die Vorherrschaft seiner eigenen Volksgruppe – der Oromo – in Addis auszubauen. «Die Menschen hier in Amhara sind zwiegespalten, was die Fanos angeht», sagt Moges. «Einerseits fragen sie sich, wer ausser den Fanos sie beschützt, wenn die TPLF zurückkommt. Andererseits wissen sie, dass es auf Dauer nicht zwei Könige im gleichen Palast geben kann.»
Auch andere Gruppen rütteln an Abiys Thron: Im Bundesstaat Oromia etwa kämpft der bewaffnete Arm der Oromo-Opposition (OLA) gegen Regierungstruppen und Amhara-Kräfte. Kaum eine Woche vergeht ohne Berichte von erneuten Massakern in der Region.
Kürzlich berichtete die Zeitung «Le Monde» von Gerüchten, wonach die tigrayische Führung und die Regierung Ende Juni zu Friedensverhandlungen in Tansania zusammenkommen sollen – die Abiy inzwischen bestätigt hat. Der Sprecher der TPLF, Getachew Reda, antwortete auf Twitter umgehend auf den Bericht: «Es ist die erklärte Position der Regierung von Tigray, jeden Quadratmeter Tigrays zurückzufordern – mit allen möglichen Mitteln, friedlich oder auf andere Weise. Und zwar bald!» Gleich zu Beginn des Konflikts hatten Regierungstruppen zusammen mit der eritreischen Armee die Region Welkait in Westtigray eingenommen und halten sie seither besetzt.
Ein Palast für eine Milliarde Dollar
Unterdessen bleibt die humanitäre Lage im Norden des Landes katastrophal. In den Konfliktregionen Afar, Amhara und Tigray sind gemäss Uno neun Millionen Menschen auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Nach monatelanger Blockade durch die Regierung wurden in der ersten Juniwoche laut US-Informationen zwar 1100 Lastwagen mit Nahrungsmitteln nach Tigray durchgelassen, doch es mangelt an Benzin, um die Menschen ausserhalb der Regionalhauptstadt zu erreichen.
«Wir können das Ausmass dieser Katastrophe noch nicht abschätzen», sagt ein Arzt aus dem öffentlichen Ayder-Spital in Mekele am Telefon. Seinen Namen will er nicht in der Zeitung veröffentlicht wissen. Fotos, die er per Whatsapp schickt, zeigen leere Krankenzimmer mit abgewetzten Liegen und leeren Medizinschränken. «Wir können nur noch Notfallpatienten versorgen», erzählt er. Es fehle der Strom für die Geräte, die Angestellten hätten seit einem Jahr keinen Lohn erhalten. «Dialysepatienten sterben uns reihenweise weg, weil wir sie nur noch ein- statt dreimal die Woche behandeln können.» Ähnlich ergehe es Krebspatient:innen, für die die Medikamente für Chemotherapien fehlten. «Das als Arzt mitanzusehen, tut unheimlich weh. Ich habe die Ausbildung, ich weiss, wie Diagnosen erstellen – aber ich bin machtlos gegen diese menschengemachte Krise, die jederzeit beendet werden könnte.»
Überall im Land leiden die Menschen unter den wirtschaftlichen Folgen des Krieges: Die Inflation liegt laut offiziellen Zahlen bei 37 Prozent. Die Preise für Grundnahrungsmittel wie Brot, Öl und Eier haben sich in Addis Abeba in den letzten Monaten verdoppelt bis verdreifacht. Zudem sind laut Uno 5,7 Millionen Äthiopier:innen aufgrund der anhaltenden Dürre in Ostafrika von «ernsthaftem Hunger» bedroht.
Zur Bekämpfung der Krise hat die Weltbank mit der äthiopischen Regierung im Mai einen Pakt unterzeichnet, der 300 Millionen US-Dollar für den Wiederaufbau in den Konfliktregionen des Landes zur Verfügung stellen soll. Das Problem daran: Das Geld sei nicht an Reformbestrebungen geknüpft, sagt der Soziologe Mehdi Labzaé. «Frankreich und Deutschland versuchen, mit Äthiopien zu einem ‹business as usual› zurückzukehren. Sie ignorieren, dass Abiy versucht, einen autoritären Staat mit seiner Partei im Zentrum aufzubauen.»
Dass Abiy trotz Krieg und Krise im Land so bald nicht abzudanken gedenkt, zeigt sein neustes Megaprojekt: Derzeit lässt er auf dem Yeka-Hügel über Addis Abeba einen neuen Palast bauen. Die Kosten hierfür: knapp eine Milliarde US-Dollar. Abiy macht damit klar, welcher König auch in Zukunft über Äthiopien herrschen soll.