Literatur: Die Kunst des Trashtalks
«Ghosting» meint ein besonders pathologisches Sozialverhalten: Der Anglizismus, der vor einiger Zeit Eingang in die deutsche Sprache gefunden hat, bezeichnet den plötzlichen Abbruch einer Beziehung, wenn also der Partner oder die Freundin sich nicht mehr meldet und Kontaktversuche ignoriert, gewissermassen zum «Geist» wird. Es handelt sich also um eine Art potenzierter Beziehungsunfähigkeit: Die Leute sind nicht mehr nur nicht in der Lage, stabile Sozialkontakte aufzubauen – sie haben inzwischen sogar verlernt, diese zu beenden.
Es ist daher eigentlich irreführend, dass Sebastian Ingenhoff seinen Roman «Ghosting» genannt hat. Die Geschichte des Kölner Journalisten und Schriftstellers erzählt nämlich nicht etwa von NeurotikerInnen, die einsam durch urbane Räume irren und toxisch auf ihre Umwelt reagieren. Im Gegenteil: Die Figuren dieses Romans sind eigentlich nie allein, und sie kreisen auch nicht nur um sich selbst, sondern kümmern sich umeinander. Vermutlich ist es kein Zufall, dass die meisten ProtagonistInnen nicht männlichen Geschlechts sind, was ja gemeinhin besser für die Ausbildung zwischenmenschlicher Kompetenzen ist.
Ingenhoffs Heldin heisst Solana: eine junge US-Amerikanerin, die es als Spross von EinwanderInnen von der Servicekraft zum R-’n’-B-Star geschafft hat. Der erste Teil schildert die Erlebnisse der Musikerin und ihrer Homies auf Welttournee: Solana hat eben ihr von der Kritik bejubeltes Album «Multiverse» veröffentlicht, das sie mit einem mythenumrankten Produzenten aufgenommen hat. Mit ihrer Crew hängt sie nun kiffend in Hotels rum, übt sich in der Kunst des Trashtalks oder schäkert auf Twitter mit Elon Musk.
Das ist anspielungsreich und mit Sprachwitz erzählt: oft flapsig, aber nicht platt. «Ghosting» wird aber vom Verlag nicht umsonst als «Mystery Novel» beworben: Bei einem Fotoshooting erfährt Solana, dass ihrem kranken Vater eine schwere Operation bevorsteht. Kurzerhand lässt sie alles stehen und liegen und setzt sich in den Privatjet nach Hause. Über Grönland stürzt das Flugzeug ab. Solana überlebt zwar und bleibt selbst gestrandet in der Wildnis nicht lange allein. Doch dazu bedarf es dieses Mal einer Begegnung der eher übersinnlichen Art.
«Ghosting» ist also auch eine Geistergeschichte. Klingt alles in allem sehr verschroben? Absolut! Doch gerade deshalb erschafft das Buch ein sehr gegenwärtiges und empathisches Bild der Welt im Hier und Jetzt.
Sebastian Ingenhoff: Ghosting. Roman. Ventil Verlag. Mainz 2021. 224 Seiten. 28 Franken