Zertifikatspflicht: Wer will «Bildung für alle»?

Nr. 38 –

Die Zertifikatspflicht an den Hochschulen sorgt für Wirbel. Während sich manche StudentInnen im Widerstand wähnen, befürchten linke StudentInnenorganisationen eine politische Vereinnahmung und eine Verwässerung ihrer Forderungen.

Manche halten sich für Sophie Scholl: Protest von ZertifikatsgegnerInnen vor der Zürcher Uni.

«Alle sollten dieselben Chancen haben», sagt der junge Mann in der dunklen Windjacke dezidiert. Jonas Thürler beginnt an diesem Montagmorgen sein ETH-Studium nicht in einem Vorlesungssaal. Der Zwanzigjährige, der seinen richtigen Namen nicht in der Zeitung lesen möchte, steht vor dem Hauptgebäude der Universität Zürich (UZH) und verteilt Flyer mit der Aufschrift «Education for everybody». StudentInnen seien eine Bevölkerungsgruppe, bei der es selten schwere Covid-Verläufe gebe, entsprechend sei es «unsinnig», an den Hochschulen «seine Gesundheit beweisen zu müssen».

Seit dem 20. September gilt an zahlreichen Schweizer Universitäten und Fachhochschulen die Zertifikatspflicht für alle BesucherInnen von Präsenzveranstaltungen. Wer nicht geimpft, genesen oder getestet ist und bei einer Stichprobe kein entsprechendes Zertifikat vorweisen kann, muss den Saal wieder verlassen. In einer internen Mail schreibt die Leitung der UZH ihren MitarbeiterInnen, man wolle «die Polarisierung der Bevölkerung nicht verstärken» und werde deswegen bis mindestens Ende Oktober Gratistests für alle Universitätsangehörigen anbieten.

Doch die Polarisierung hat die Universitäten längst erfasst: Einige StudentInnen sehen in der universitären Zertifikatspflicht einen Eingriff in ihr Recht auf Bildung. Am Montag wurde in mehreren Schweizer Städten gegen die Massnahme protestiert. In Bern waren es rund 30 Personen, in Luzern um die 100, in Zürich rund 150. Der «schweizweite Studentenaufstand», der im Vornherein auf dem Messengerdienst Telegram beschworen wurde, blieb aus.

Nicht instrumentalisieren lassen

Der erschwerte Zugang zu Bildung beschäftigt auch linke StudentInnen. Im zweiten Stock eines unscheinbaren Häuschens an der Rämistrasse im Zürcher Univiertel sitzen am vergangenen Freitag ein gutes Dutzend junge Menschen zusammen. Die Gruppe kritische Universitätspolitik (kriPo), die sich als Auffangbecken linker StudentInnen an den Zürcher Hochschulen versteht, hat zu diesem Treffen eingeladen. Kurz zuvor war bekannt geworden, dass zertifikatskritische StudentInnen zusammen mit dem massnahmenkritischen und zunehmend radikalisierten Verein Mass-voll an den Hochschulen demonstrieren wollen.

Die Forderung nach Bildung für alle, unabhängig von der finanziellen Situation, dem soziokulturellen Hintergrund und dem Aufenthaltsstatus, gehört zu den Grundpfeilern der kriPo. Was hat es zu bedeuten, wenn die eigene Parole – «Bildung für alle» – plötzlich anders ausgelegt wird?

In der kriPo herrscht kein Konsens darüber, ob Zertifikate an Unis gänzlich abzulehnen seien. Einig ist man sich hingegen darin, dass es eine sozialverträglichere Ausgestaltung mit vollständiger Abdeckung durch Onlinekurse und Gratistests bräuchte – und dass es nicht gehe, wenn sich ihre MitstudentInnen mit gegen rechts offenen Gruppierungen zusammentun.

Nach stundenlangen Diskussionen fällt die Entscheidung, einen Infoflyer zu entwerfen. Zudem will man die Telegram-Chats im Auge behalten, in denen sich StudentInnen mit MassnahmengegnerInnen vernetzen.

In den entsprechenden Chats, etwa «Studenten gegen Zertifikat», ist von «Impfdiktatur», «Apartheid» und «Fake-Medien» die Rede. Daneben stehen beispielsweise auch Vergleiche der zertifikatsfeindlichen StudentInnen mit Sophie Scholl, der Widerstandskämpferin gegen das NS-Regime. Auch Nicolas A. Rimoldi und Viola Rossi, die KopräsidentInnen von Mass-voll, sind Mitglieder dieser Gruppe. Am 16. September postet dort ein Mitglied Bilder von Hakenkreuzen.

Holocaustverharmlosung

Von braunem Gedankengut will der ETH-Student Jonas Thürler nichts wissen. Den Erstsemestrigen mit der dunklen Regenjacke stört es, dass der Protest hier mit Mass-voll und den teilweise auch gewalttätigen Anti-Coronamassnahmen-Demos gleichgesetzt wird. Auf einem der Flyer in Thürlers Hand informiert die Gruppierung «Studierende für Grundrechte» darüber, dass das Zertifikat eine Zweiklassengesellschaft schaffe, die Spaltung vorantreibe und Menschen diskriminiere.

Gleich daneben führt die kriPo derweil an ihrem improvisierten Stand einige Diskussionen und verteilt ihrerseits Flyer: Darin fordert die Gruppe ebenfalls für alle zugängliche Bildungsmöglichkeiten. Dann folgt ein Informationstext zu rechtsextremem Gedankengut und zur Verharmlosung des Holocaust, etwa durch gelbe «Ungeimpft»-Sterne, die in den letzten Wochen immer wieder an von Mass-voll (mit-)organisierten Demonstrationen zu sehen waren.

Während vor dem Haupteingang der UZH die letzten Schilder abgelegt werden, die FotografInnen wie auch die anwesenden ZivilpolizistInnen langsam aufbrechen, befestigt nur wenige Meter weiter ein junger Mann ein T-Shirt mit dem Aufdruck «Impfen macht frei» und einem «Mass-voll»-Sticker am Haupteingang des ETH-Gebäudes. Der Mann scheint alkoholisiert und ist sichtlich stolz, möchte sogar neben dem Shirt, mit Bierdose in der Hand, für ein Foto posieren. Er studiert mutmasslich selber an der ETH Zürich, macht auch aus seiner Identität keinen Hehl. Dutzende StudentInnen eilen unbeeindruckt an ihm vorbei; als auch er schliesslich im Gebäude verschwindet, bleibt das Shirt mit der Holocaustverharmlosung weiter am Haupteingang einer der renommiertesten Universitäten der Welt hängen. Die ETH hat inzwischen ein Disziplinarverfahren gegen den Studenten eröffnet.