Deutschland nach der Wahl: Die Politik politisieren

Nr. 39 –

Bieder-bleierne Kontinuitäten, ein paar progressive Elemente: So lässt sich das Ergebnis der deutschen Bundestagswahl zusammenfassen. Die SPD konnte ihren freien Fall stoppen und landete zwar in der Poleposition, aber nur wenige Punkte vor der Union, die ein historisch schlechtes Ergebnis einfuhr. Die Grünen erzielten das beste Resultat ihrer Geschichte, blieben aber weit hinter den Erwartungen zurück, während es die Linkspartei nur mit viel Glück überhaupt wieder ins Parlament schaffte. Und während die marktradikale und armenfeindliche FDP leicht dazugewann, verlor die rechtsextreme AfD zwar in der Wähler:innengunst, wurde dafür aber in mehreren ostdeutschen Bundesländern stärkste Kraft.

Dass eine Mehrheit den strukturellen deutschen Konservatismus plötzlich abstreifen würde, hat zwar kaum jemand ernsthaft geglaubt – auch wenn zeitweise vieles offen und gar ein grün-rot-rotes Bündnis in Reichweite schien. Ernüchternd ist das Resultat dennoch: Auch nach sechzehn Jahren stabiler Stillstandsverwaltung durch CDU-Kanzlerin Angela Merkel, in denen die Ungleichheit wuchs, der Wohnraum immer teurer und Sozialleistungen gekürzt wurden, die Infrastruktur verlotterte und die Klimakrise voranschritt, wollten die meisten offenbar kein Wagnis eingehen. Ein bisschen Wandel, das ja, aber bitte ohne dass sich an der Marschrichtung etwas ändert. Ein Votum für den Status quo also.

So visionsfrei wie das Wahlergebnis sind nun auch die wahrscheinlichsten Koalitionen: Entweder einigen sich Union, Grüne und FDP auf einen konservativ-neoliberalen Kurs mit grünkapitalistischem Anstrich, wobei dann der mässig talentierte Armin Laschet Kanzler wird. Oder Grüne und FDP machen den teflongleichen Sozialdemokraten Olaf Scholz zum Regierungschef – und damit einen Mann, der Sozialabbau und mehrere Korruptionsskandale verkörpert und in der Vergangenheit auf Grundrechte pfiff. Das wäre dann eine Art grünliberales Modell: «weder links noch rechts», ein wenig Nachhaltigkeit und soziale Gerechtigkeit. Hauptsache modern.

Bei beiden Bündnissen stellen sich diverse Fragen: Sind die Grünen, die um jeden Preis mitregieren wollen, derart opportunistisch, dass sie Zugeständnisse machen, die ihr schon jetzt nicht besonders ambitioniertes Klimaprogramm weiter verwässern? Welche Steuerpolitik kann ein möglicher Finanzminister Christian Lindner durchsetzen, der mit der FDP eine Partei führt, von deren Massnahmen vor allem das reichste Prozent profitiert? Und was würde ein Ultraliberaler im Finanzministerium für die EU-Schuldenunion oder die globale Mindeststeuer der OECD bedeuten?

Wie die Parteien sich einigen wollen, ohne dass alle vollends ihr Profil verlieren, bleibt abzuwarten. Die Erfahrung zeigt allerdings: Je stärker sich Parteien auf ein Zentrum zubewegen, desto weniger hält dieses Zentrum für gewöhnlich stand, es kippt nach rechts. Um besser zu verstehen, wohin die Reise gehen könnte, lohnt sich eine Bestandesaufnahme. Denn sosehr die Monate vor der Wahl von inhaltsleerem Getöse geprägt waren, sie legten doch den Zustand des Nachbarlands auf schmerzliche Weise offen. Die vielleicht erschütterndste Erkenntnis aus dieser Zeit des rasenden Stillstands: wie entpolitisiert Politik und Gesellschaft nach Jahren neoliberaler Verwerfungen, nach Austerität und falschen Versprechen sind.

Dass die Erstwähler:innen neben den Grünen vor allem der FDP ihre Stimme gaben, ist dabei bloss sichtbarster Ausdruck dafür, wie fest die Ideologie in den Köpfen sitzt: Wo es alle individuell nach oben schaffen können, braucht es keine Vorstellung von Gesellschaft oder Solidarität. Wie verheerend die Entpolitisierung ist, hat sich auch im Wahlkampf manifestiert. Die einen empörten sich über plagiierte Textpassagen oder malten das kommunistische Monster an die Wand, während andere über klimapolitische Kosten und Verbote lamentierten, aber darüber schwiegen, wie teuer Nichtstun wird. Eine politische Zunft in der Unfähigkeit vereint, die Zukunft zu gestalten. Multiple Krisen, keine Lösung in Sicht.

Umso wegweisender war deshalb ein Ereignis, das am Wahlsonntag die deutsche Hauptstadt beben – und die Linke in Europas Metropolen hoffen liess: Über eine Million Menschen sprachen sich für die Überführung grosser Immobilienkonzerne in die öffentliche Hand aus – und wehrten sich damit gegen die kapitalistische Ordnung auf dem Wohnungsmarkt. Unabhängig davon, wie die Regierung das Begehren umsetzt, war die Kampagne «Deutsche Wohnen und Co. enteignen» schon deshalb erfolgreich, weil sie eine ganze Stadt zu politisieren vermochte. Und dafür gesorgt hat, dass eine Welt jenseits von Profitlogik überhaupt wieder möglich scheint.

Das Ergebnis der Bundestagswahl verheisst aus den Institutionen wenig Progressives. Eine Politisierung der Politik wird in den kommenden Jahren deshalb ausserhalb davon stattfinden müssen. Wie das gehen könnte, hat Berlin gezeigt.