Deutschland: Doch keine Schicksalswahl
Obwohl es angeblich «um alles» ging, hat in Deutschland am Sonntag das Versprechen auf ein «Weiter so» gewonnen. Aber wie lässt sich das Ergebnis interpretieren? Und was erklärt das grandiose Scheitern der Linkspartei?
In eine regelrechte Aufbruchstimmung hatten sich vor allem Grüne und FDP im Verein mit den Hauptstadtjournalist:innen hineinfantasiert: Eine Klima- oder Modernisierungswahl stehe an, «nie gab es mehr zu tun», meinten die Liberalen; die kommende Regierung sei «die letzte, die noch aktiv Einfluss auf den Klimawandel nehmen» könne, die Grünen.
In der Bevölkerung ist die Stimmung offenbar eine andere. Die Wahlbeteiligung lag mit knapp 77 Prozent etwa gleichauf mit der von 2017, ein Viertel der Wahlberechtigten verweigerten demnach den Urnengang. Und Millionen Menschen ohne deutschen Pass durften gar nicht votieren, in einigen Wahlkreisen mehr als die Hälfte der erwachsenen Bevölkerung.
Doch auch jene, die ihre Stimme abgaben, sorgten nicht gerade für ein Ergebnis, das die im Vorfeld viel zitierte «Schicksalswahl» abbildet: Die Sozialdemokratie gewann 5,6 Prozentpunkte dazu und kommt damit auf 25,7 Prozent; die Union landete mit dem schlechtesten Ergebnis ihrer Geschichte und einem Verlust von 8,8 Prozentpunkten mit 24,1 Prozent auf Platz zwei, verloren hat sie vor allem an SPD, Grüne und FDP.
Zusammen vereinen die Parteien der Grossen Koalition weiterhin knapp die Hälfte der Stimmen auf sich – auch wenn die Zustimmung für die Fortsetzung einer solchen Koalition gering ist. Das erscheint einigen lähmend, doch zugleich ist es plausibel. Der letzte durch eine Regierung vollzogene grosse Umbau, der in Deutschland wirklich etwas tiefgreifend verändert hat, war der von Sozialdemokratie und Grünen orchestrierte massive Abbau des Sozialstaats: die Agenda 2010. Hinzu kommen eineinhalb Pandemiejahre, die für viele mit tiefer sozialer Unsicherheit und anderen Ängsten einhergingen. Nun ist die Sehnsucht nach Ruhe gross – und nach einem Kanzler, der ähnlich «geräuscharm» zu regieren imstande ist wie Angela Merkel. Dem SPD-Kandidaten und Vizekanzler Olaf Scholz gelang es zuletzt am ehesten, dieses Versprechen eines merkelschen «Weiter so» zu verkörpern – verziert mit ein paar sozialen und wegen der Aussicht auf die Einbeziehung der Grünen auch klimapolitischen Tupfern.
Der berechenbarste Kandidat
Gewinner zu sein, bedeutet für Scholz jedoch nicht, auch sicher Kanzler zu werden. Da voraussichtlich erstmalig drei Parteien miteinander koalieren, liegt der Ball bei den um 5,9 Prozent erstarkten Grünen und der FDP. Von ihnen hängt massgeblich ab, ob es zu einem «Ampelbündnis» (SPD-Grüne-FDP) oder einer «Jamaika»-Koalition (CDU-Grüne-FDP) kommt. Die grossen Kapitalfraktionen in Deutschland können mit beiden Varianten gut leben. In der Bevölkerung hätte die Ampel unter Führung der SPD mit fünfzig Prozent die weitaus grösste Zustimmung. Das passt zu den Beliebtheitswerten von Scholz.
Ein Teil der SPD versucht sich jetzt in der Erzählung, sie habe die Sünde der Agenda 2010 endlich hinter sich gelassen und werde wieder wegen der sozialen Frage gewählt. Überzeugend ist das nicht. Zwar gingen einerseits 820 000 Stimmen von der Linkspartei an die SPD über. Andererseits startete diese ihre überraschende Aufholjagd erst spät – und nach diversen Fauxpas der beiden anderen Kanzlerkandidat:innen.
Das Ergebnis lässt sich daher auch so interpretieren: Die Hoffnungen, dass eine Bundesregierung in der sozialen Frage wirklich substanziell etwas zugunsten von Lohnabhängigen, Erwerbslosen, Armen drehen will und kann, sind gering; eher sorgen sich viele darum, dass es «noch schlimmer» kommt (was mit einem möglichen FDP-Finanzminister Christian Lindner im Übrigen realistisch ist). Scholz, der zumindest verspricht, keine Experimente zu wagen, gilt vielen als berechenbarster Kandidat.
Geholfen hat ihm auch, dass Themen wie Hartz IV, Mieten oder Vermögenssteuern im Wahlkampf nur eine geringe Rolle spielten. Die Inhaltsleere wurde dadurch noch verstärkt, dass die drei grösseren Parteien – CDU, SPD und Grüne – alle irgendwie für «die Mitte» stehen und in den grossen Fragen nur kleine Unterschiede erkennbar wurden. Entsprechend waren die ohnehin kaum noch an Parteien gebundenen Wähler:innen bereit, ihre Entscheidung flexibel zu handhaben oder sie erst spät zu treffen – so sind die Achterbahnfahrten der Umfragewerte zu erklären, denen zufolge alle drei Kanzlerkandidat:innen in den verschiedenen Wahlkampfphasen mal vorne lagen.
Keine passende Wahlentscheidung
Dass wesentliche Themen im Wahlkampf keine prominente Rolle spielten, bedeutet nicht, dass Mieten, Renten, Löhne und auch die Klimaerhitzung nicht die entscheidenden Fragen dieser Tage wären. Am Freitag vor der Wahl demonstrierten eine halbe Million vor allem junge Menschen für echten Klimaschutz. Seit dem Sommer fand in Deutschland überdies eine Reihe zum Teil sehr hart geführter Streiks statt – bei der Bahn, im Einzelhandel oder in der Pflege. Hier zeigte sich ein forderndes Selbstbewusstsein, das jedoch nicht unbedingt in eine passende Wahlentscheidung übersetzt wurde.
Ähnlich verhält es sich mit der Mieter:innenbewegung in Berlin, die bewiesen hat, dass soziale, linke Politik durchaus mobilisierfähig ist – 56 Prozent, mehr als eine Million Menschen, stimmten am Wahlsonntag für den Volksentscheid der Basisinitiative «Deutsche Wohnen und Co. enteignen» und damit für die Vergesellschaftung grosser Immobilienkonzerne.
Doch auch hier spiegelt sich der Wunsch nach einer anderen Mietenpolitik nicht in den Ergebnissen der parallel zur Bundestagswahl durchgeführten Berliner Abgeordnetenhauswahl wider. So hat etwa die Linkspartei leicht verloren, obwohl sie als einzige Partei den Volksentscheid vollumfänglich unterstützte. Zugleich wird mit der SPD-Politikerin Franziska Giffey eine offene Gegnerin des Begehrens Bürgermeisterin: Eine grosse Mehrheit der Berliner SPD-Anhänger:innen befürwortete zwar, anders als sie, die Vergesellschaftung von Wohnraum, die Linkspartei konnte daraus aber kein Kapital schlagen.
Das Drama der Linken
Die leichten Verluste in der Hauptstadt sind allerdings kein Vergleich zum geradezu niederschmetternden Ergebnis der Linkspartei auf Bundesebene – sie ist mit 4,9 Prozent unter der Sperrklausel geblieben und erhält nur dank drei gewonnener Direktmandate doch noch 39 Sitze im Bundestag.
Mit den ersten Hochrechnungen begann auch sogleich der Kampf um die Deutungshoheit – die nur mühsam zugeschütteten Gräben zwischen den zerstrittenen Parteiströmungen sind wieder aufgebrochen und haben sich sogar noch vertieft: Das Lager um die ehemalige Fraktionsvorsitzende Sahra Wagenknecht hatte ebenso schnell Erklärungen zur Hand wie Repräsentant:innen des vor allem an Regierungsbeteiligung orientierten «Reformerflügels», etwa die frühere Vorsitzende Katja Kipping oder die im Parteivorstand starke «Bewegungslinke».
Dabei ist in den kommenden Wochen vor allem eine Frage zu klären: Wie kann es sein, dass Die Linke zwar in Sachen Umverteilung, soziale Gerechtigkeit und Klimapolitik das mit Abstand ambitionierteste Programm präsentierte, damit aber nicht durchdrang? Die ersten Debatten unter den Genoss:innen drehten sich vor allem darum, ob es an «zu viel oder zu wenig Wagenknecht» gelegen habe respektive an zu viel oder zu wenig Regierungsbereitschaft. Tatsächlich dürften mehrere Gründe zusammenkommen, darunter die erodierte Verankerung im ostdeutschen Kernland sowie unter Gewerkschafter:innen – und eine Strategie, die es keinem der Milieus wirklich recht machen konnte.
Unbeantwortet blieb ausserdem die Frage, wie linke Politik nicht nur gefordert, sondern auch durchgesetzt werden kann. Die Rede von der fehlenden «Durchsetzungsperspektive» ist von linken Politiker:innen nun wieder öfter zu vernehmen, doch meist bleibt das auf die Regierungsfrage verengt. Wenn aber das höchste, das sich viele von einer Regierung zu erwarten trauen, Berechenbarkeit ist, hängt die Durchsetzungsperspektive möglicherweise gar nicht so sehr daran, wie nachdrücklich eine linke Partei ihre Bereitschaft bekundet, «mitzugestalten», sondern erst einmal daran, ob sie Menschen dafür gewinnen kann, gemeinsam in die eigene Kraft zu vertrauen. Dafür hat die Linkspartei keine Strategie. Ob sie sie findet oder in Schlammschlachten mit der realen Option auf Spaltung versinkt, wird sich schnell zeigen.