Erzählung: Das alte Licht der Redwoods

Nr. 39 –

Eine Zeitreise aus dem Juni 2061 in den Dezember 2021 – frei nach den Filmen «Vertigo», «La Jetée», «12 Monkeys» und dem Song «Total Eclipse of the Heart» von Bonnie Tyler in der Version von Angie McMahon.

Illustration: Nando von Arb

Maschinenlärm einer Boeing.

Der Schnee auf dem Rollfeld gefriert die Szene zu einem Schwarzweissbild. Da ist Musik. Every now and then I get a little bit terrified and then I see the look in your eyes. Vor den hohen Fenstern am Gate sitzen die Wartenden. Das Licht ist alt. Die Wiederholung hat es wärmer gemacht. Die Sequenz brennt. Seit der Kindheit, eine Kopfszene, erinnert, erdacht – gespeichert auf jeden Fall, glaubt SYB/LL. Eine Sequenz im Boardingbereich des Flughafens Kloten. Kurz bevor alles unumkehrbar wurde, wie es die Experten nennen. Eine Frau steht auf und lächelt, wie jemand lächelt, der die Liebe kennt. Doch das Gesicht der Frau zerfällt. Was bleibt, sind die traurigsten Augen der Welt.

SYB/LL schreckt auf. Eine Handbewegung, und ihr Gerät reagiert sofort:

Montag, 27. Juni 2061. 07.15 Uhr. TERMIN: Aufgebot der Schwarz AG. Die Versuchsperson wird zur letzten Kontrolle gebeten. SYB/LL kennt den Ablauf.

Draussen die Stadt. Sie ist still. Zürich ist ein Königreich der Ratten. In der Bahnhofshalle kreischen die Vögel, ganze Schwärme fliegen von den Geleisen zu den Stahlträgern und zurück. Man lässt die Tiere gewähren, dasselbe gilt für die Gräser und die Schlingpflanzen überall, die es trotz der Kälte schaffen.

Für heute wurden kaum Passanten bewilligt, merkt SYB/LL, nur ein paar Vermummte auf Fahrrädern.

Das Bildschirmauge glotzt gleichgültig.

«Wer ist die Frau aus Ihrem Traum?»

«Ich weiss es nicht», sagt SYB/LL, und unter der Kameralinse surren zwei Rädchen. Sie vermessen mich immer noch, denkt SYB/LL, dabei bin ich völlig ungeeignet für dieses Projekt: Seit 2054 als systemirrelevant eingestuft, drei Verwarnungen, und dann diese Albträume. «Ich will nicht unbedingt zurück, hören Sie?»

«Und weshalb?», fragt das Bildschirmauge.

«Weil ich das alles schon kenne. Ich war damals zwar ein Kind, aber …»

«Darum geht es nicht. Wir wollen die Gegenwart verbessern.»

SYB/LL seufzt: «Ist es dafür nicht zu spät?»

«Ich glaube sowieso nicht, dass das funktioniert», zischt Filby unter der Kapuze hervor, und sein Mund macht Wölkchen.

«Das ist doch ein Diversion-Fake!»

Das Zoologische Museum wirkt abgestorben, überhaupt liegt die Stadt wie erfroren da. Das Leben hat sich zurückgezogen, die Luft riecht nach Ende. Die Schweiz im ewigen Winter.

«Weisst du noch, wie die Sommer in Zürich gerochen haben? Die Linden, Grillfeste?», sagt Filby und versucht, nicht traurig zu klingen. Filby hat lockiges Haar und arbeitet für eines der privaten Ämter. Regelmässig prüft er die Museen, die wie alle Institutionen ohne Profitwachstum geschlossen wurden.

«Aber wenn die nicht bald was machen, zerfleischen sich die Menschen; schleichen nachts raus zur Oberschicht und schlachten die reichen Sparer ab, wie die Morlocks», sagt Filby, und er sagt es leise, weil er weiss, dass die Stadt überall Bildschirmaugen und Mikrofonohren hat.

Im Museum ist es eisig. Den Präparaten macht das nichts aus, sie warten geduldig. SYB/LLs Schritte klackern durch die Eingangshalle. Vor ihr steht das mächtige Mammutskelett. Das milchige Licht lässt die schwebenden Staubpartikel zwischen den Oberschenkeln und Rippen glänzen. Im Untergeschoss stehen Nashorn, Zebra, ein Puma, Gepard, Luchs. Alles Schützenswerte steht hier zwischengelagert, dabei ist es auch dafür zu spät. Die Vitrinen sind Särge.

«Und du bist jetzt die Auserwählte?», fragt Filby amüsiert, und SYB/LL nickt.

«Die wollen zurück, um die Welt zu ändern.» Doch Filby lacht.

«Klingt nach viel Arbeit. Besser buchst du dir den ersten Flug nach Westafrika, dann bist du schon mal in Sicherheit – weisst du eigentlich, dass ich mal ein Flugticket gewonnen und nie eingelöst habe?»

SYB/LL bleibt vor den ausgestopften Fischreihern stehen. Ein falscher Schatten huscht durchs Sichtfeld, und am Schatten hängt ein falsches Glöcklein.

«Die wollen nichts ändern», seufzt Filby. «Sonst hätten die doch längst was gemacht. Die basteln nur an Zeitreisen rum, damit sie nicht zugeben müssen, es in der Vergangenheit verkackt zu haben. Lenken davon ab, dass sie auch jetzt nichts tun. Aber ich sag dir, es brodelt im Untergrund, eine Revolution – mindestens.»

SYB/LL möchte das gerne glauben.

«Aber wenn es wirklich klappen würde, was würdest du ändern?»

«Was bereuen wir jetzt, damals nicht geändert zu haben?», flüstert Filby, während SYB/LL auf die toten Robben und Pinguine blickt. Nur die Schneeeule wirkt, als warte sie auf den richtigen Moment zum Abflug. Daneben der Eisbär. Der Staub auf der Vitrine verschleiert das Exponat, es steht auf den Hinterpfoten und hat das Maul aufgerissen. SYB/LLs Ohren glauben, wieder ein Glöcklein zu hören.

«Hier war ich schon mal», sagt sie leise.

«Was? Unmöglich …»

«Trotzdem.»

Die Röhre mit der Aufschrift «TTP – Schwarz AG» dominiert die Mitte des Raums. Unzählige Kabel führen zu einer Wand voller Schalter, da sind Schienen, ein Wassertank, Messinstrumente. Der schlaksige Projektleiter wirkt überzeugt. Auf seinem Kittel leuchtet dasselbe Firmenlogo wie auf dem Bildschirm. Eine freundliche Frauenstimme beginnt zu erzählen:

«Von Zürich in die Welt – und in die Zeit: Basierend auf den Plänen der Genfer Quantenphysikerin Juliette Reville, begann Dr. Lars Schwarz im Jahr 2058 die ersten Versuche mit dem Teilchentransporteur TTP. Ein Erfolg: Atomare Zusammensetzungen wurden dank eines hyperakkuraten Koordinatensystems durch den Raum und schliesslich durch die Zeit transportiert.

Phase eins: exakte Koordinaten der Zielortzeit. Phase zwei: Aufenthalt. Phase drei: Koordinaten der Rückzielortzeit, meistens ein vertrauter Ort. Ein Mikrosensor im Versuchsobjekt ermöglicht die Ortung und Rückführung.

Hier im Jahr 2059 eine markierte Fruchtfliege, die um zwei Minuten in die Vergangenheit und in ein Einmachglas TTPiert wurde. 2060 dann erste Versuche mit einfachen Wirbeltieren. Dabei wurde deutlich, dass weibliche Lebewesen für Zeitreisen deutlich geeigneter sind. Januar 2060: Die Katzendame Mary wird um 39 Jahre in die Vergangenheit geschickt, in den Eingangsbereich des Zoologischen Museums in Zürich, von dem wir bis heute das gesamte Videoüberwachungsmaterial besitzen. Hier die Aufnahme vom 18. Dezember 2021, 09 Uhr 20, beachten Sie das Hinterbein des Mammutskeletts: Und da erscheint Mary. Unversehrt. Die erste Zeitreise. Und ab 2061 begann die Schwarz AG schweizweit mit der bewilligten Pflichtrekrutierung einer passenden Testpilotin. Die Zeit liegt offen vor uns. Wohin würden Sie reisen? Oder besser: in welche Zeit? Wir glauben an eine zweite Chance – dank der Schwarz AG können wir endlich aus der Zukunft lernen.»

Der Projektleiter räuspert sich: «Es ist wichtig, dass sich die Zeitreisende strikt an die Anweisungen hält.»

«Habe ich denn eine Wahl?», fragt SYB/LL und erkennt in der Ecke den Mann mit den grauen Haaren: Firmengründer Dr. Schwarz.

Der erste Auftrag blinkt auf dem Gerät: 3. Juli 2061, Erste Versuchsreise, Bewegungsradius eruieren, Kontaktaufnahme mit einer Zielperson am 18. Dezember 2021.

Die Röhre ist dunkel. Das Geräusch ist ein Zischen. Das Sonnenlicht hüpft wie wild über den Horizont, die Tage rasen im Rückwärtsgang, alles blinkt wie ein Stroboskop, ein Schwindel setzt ein, bis die Welt in Helligkeit erstarrt. Phase eins: exakte Koordinaten der Zielortzeit.

Kleine, schwarze Fratzen starren SYB/LL entgegen, dazwischen Glas. Sie steht vor den Fledermäusen im Zoologischen Museum. In ihrem Rücken sind Stimmen zu hören, Gelächter, da sind tatsächlich Besucher. Okay, denkt SYB/LL, Phase zwei: Aufenthalt, sie schnappt nach Luft, als plötzlich jemand neben ihr steht.

«Wie es wohl ist, eine Fledermaus zu sein?», sagt eine nahe Stimme.

«Nachts unterwegs, sonst Hals über Kopf, wieso nicht?», sagt SYB/LL, und die Frau lacht. Sie trägt einen Wintermantel, dazu einen roten Wollschal. Ihr Gesicht spiegelt sich gespensterhaft in der sauberen Vitrine. SYB/LL sieht die Erscheinung nur von der Seite, aber ihr Herz tut, als hätte es längst alles gesehen.

«Eine völlig fremde Perspektive – mit den Ohren sehen.»

Die Frau dreht nun den Kopf und zeigt ihre traurigsten Augen.

SYB/LL schwindelt. Die Traumbilder überlagern ihr Sichtfeld. Und da ist wieder dieses Geräusch, ein Glöcklein. Eine Katze schleicht um ihre Beine. Die Frau nimmt das Tier hoch.

«Was machst du denn hier? Du gehörst doch gar nicht hierher.»

Wen meint sie genau, denkt SYB/LL, und als hätte das Gegenüber ihre Gedanken gehört, ergänzt sie: «Ich meinte die Katze.»

Das Tier springt zu Boden und verschwindet hinter dem Schaukasten mit einem Schlangenskelett.

«Ich bin Madleina», sagt die Frau mit den traurigsten Augen. «Madleina Valdes.» Und SYB/LL will gar nicht mehr aufhören, in dieses Wesen hineinzufallen, als dieses irritiert meint: «Kennen wir uns?»

SYB/LL schreckt auf. Und sitzt in ihrem Sessel.

Phase drei: Koordinaten der Rückzielortzeit, meistens ein vertrauter Ort.

Ihr Wohnzimmer ist wie immer, nur das Bücherregal hat Staub angesetzt. Filby stürzt aus der Küche:

«Endlich. Sie haben die Rückzielortzeit vermasselt, aber willkommen zurück, es ist jetzt Herbst 2061, und dein Kaffee schmeckt immer noch scheisse.»

Dr. Schwarz ist bei der Nachkontrolle persönlich anwesend. Er wirkt zufrieden. Gierig liest er den Bericht über die wenigen Minuten im Museum. Das Bildschirmauge scannt SYB/LLs Netzhaut und misst die Biosequenzen der gespeicherten Eindrücke. Der Mikrosensor schmerzt im Nacken. Erhöhter Puls bei Kontaktaufnahme, Dopamin, Adrenalin, Serotonin, Temperaturanstieg – das Bildschirmauge rechnet.

«Danke für Ihre Kooperation. Die Erholungsphase beginnt. Beachten Sie die Empfehlungen: frische Luft, Bewegung, Vitamintabletten – scannen Sie hier die städtische Bewegungserlaubnis für 24 Stunden.»

Die Rädchen surren davon.

Doch SYB/LL will mehr wissen.

«Halt! Was soll ich eigentlich tun? Wie lautet mein Auftrag? Soll ich Daten beschaffen? Jemanden warnen? Ich brauche mehr Zeit.»

Das Gerät piepst, und SYB/LL wird aus der Kontrollstation entlassen. Aus dem Schatten tritt Dr. Schwarz.

«Ich verstehe Ihre Fragen, aber haben Sie Geduld, ich warte immerhin schon vierzig Jahre. Es ging mir immer darum, Menschenleben zu retten.» Sein Blick verliert sich.

«All die unnötigen Verluste. Ich will sie zurückbringen, zurück aus dem Reich der Toten.»

Friedhof Zürich Sihlfeld. Der Wind bläst feinen Schnee über den Asphalt. Das Eingangsportal ist bis zur Unkenntlichkeit überwuchert. Pflanzen fressen sich über Marmorengel und Inschriften. Sogar die Kuppel des alten Krematoriums trägt eine Efeukappe.

Frische Luft, Bewegung, städtische Bewegungserlaubnis für 24 Stunden. SYB/LL spaziert die Gräber entlang, die Nischen mit den Urnen, einst bekannte Namen: Johanna Spyri, Henry Dunant, Gottfried Keller, Emilie Lieberherr, Hugo Loetscher. Irgendwo sind zwei Totengräber bei der Arbeit. Gestorben wird immer, aber die gefrorenen Böden sind hinderlich. Ein Schwarm Saatkrähen macht Lärm. Hinter den Ästen einer Trauerweide flieht ein Schatten. Altes Licht, erinnert sich SYB/LL an eine Filmszene, das alte Licht der Redwoods in Kalifornien. Die blonde Frau vor dem Durchschnitt eines Baumstamms. Da sind die Jahresringe, die Zeit liegt offen vor ihr. Tausende Jahre. Ihre Hand nähert sich dem Holz. Mit dem dünnen Finger zeigt die Frau zögerlich auf eine Rille. Hier, hier wurde ich geboren, sagt die Frau im Film, und ihr Finger wechselt kaum merklich die Stelle, und hier sterbe ich. Für dich war es nur ein Moment, und du hast es nicht einmal gemerkt.

Jetzt bleibt SYB/LL vor einem Grabstein stehen, der erst kürzlich von Unkraut befreit wurde: Madleina Valdes 22.8.1985–19.12.2021.

«Hör auf zu zappeln!», befiehlt Filby eine Stunde später. «Sie ist seit über vierzig Jahren tot, zwei Minuten mehr sind jetzt auch egal.» Er tippt auf seinem Gerät herum, während SYB/LL durch ihre Wohnung tigert. Das alte Licht der Redwoods, die Jahresringe, die traurigsten Augen, every now and then I fall apart; SYB/LLs Gedanken ergeben keinen Sinn – und dann erst dieses Gefühl!

Filby hält ihr das Gerät hin. «Hier, es gab sogar eine Polizeiakte: ‹Madleina Valdes 22.8.1985–19.12.2021, wissenschaftliche Mitarbeiterin der Universität Zürich, wurde am 19. Dezember 2021 beim Höngger Wehr tot aus der Limmat geborgen. Keine äusseren Anzeichen auf Dritteinwirkung. Es wird von einem Suizid ausgegangen. In der Tasche ihres Wintermantels befanden sich folgende Gegenstände.›»

SYB/LL klickt auf die Bilddateien.

«Ein Gummihaarband – ein Kugelschreiber – das Ticket des Zoologischen Museums mit Zeitangabe – die Rückseite des Tickets. Da steht gekritzelt …»

Filby stockt der Atem.

«Sybill 16.45.»

«Woher weiss sie meinen Namen? Ich hatte doch gar keine Gelegenheit …»

«Noch nicht.»

«Filby, was, wenn es gar kein Selbstmord war? Ich muss sie warnen. Vielleicht wusste sie etwas? Das ist doch kein Zufall!» SYB/LLs Befürchtungen überschlagen sich.

«Die Zeit kennt im Nachhinein keine Zufälle.»

Das Geräusch ist wieder ein Zischen. Wieder steht SYB/LL bei den Fledermäusen, wieder hebt Madleina die Katze hoch und stellt sich danach zum ersten Mal vor. Doch diesmal dauert der Aufenthalt länger, diesmal schlendern sie über den Sechseläutenplatz, wo etliche Menschen unter der Wintersonne spazieren.

«Man vergisst das alles so schnell», flüstert SYB/LL und geniesst die Wärme auf der Haut. Madleina schaut fragend.

«Theoretisch, wenn ich aus der Zukunft geschickt worden wäre, um euch zu warnen, Klimakatastrophe, Privatisierung, Kriege, Unfälle – niemand würde mir glauben, oder?» Madleina lacht ihr schönes Lachen.

«Sie glauben es auch den Menschen aus der Gegenwart nicht. Es spielt gar keine Rolle, wie viel Wissen oder Ideale jemand hat.»

Dann ändert sich ihre Stimme, weil Madleina nach SYB/LLs Hand greift.

«Am Ende der Zeit gibt es sowieso nur etwas, das zählt …»

SYB/LL schreckt auf. Und sitzt in ihrem Sessel.

«Nein!»

Das Bildschirmauge misst diesmal länger als sonst. Die Frequenzen explodieren. Das Ziehen im Nacken ist schlimmer geworden.

«Das bringt doch nichts!», schreit SYB/LL in die Ecke des Kontrollraums, weil sie weiss, dass Dr. Schwarz dort sitzt.

«Hat sie jemanden erwähnt oder etwas Unerwartetes getan?», fragt Schwarz gefasst. Unerwartet? Das Gefühl ist unerwartet, denkt SYB/LL und versucht sofort, an etwas anderes zu denken, damit das Bildschirmauge nichts merkt.

«Geben Sie mir mehr Zeit. Holen Sie mich erst zurück, wenn ich es will.»

Doch Dr. Schwarz bleibt kühl: «Sie können den Sensor nicht selbst steuern.»

Es blutet weniger stark, als sie gedacht hatten. Neugierig betrachtet Madleina ihre Fingerkuppe, wo der Mikrosensor aus SYB/LLs Nacken liegt.

«Ich habe erst Angst vor der Zukunft, seit ich dich kenne.»

SYB/LL sucht Madleinas Blick, sucht ihre Hand.

«Sag mir, was das Einzige ist, das zählt.» Madleina fühlt sich ertappt.

«Das wäre eine sehr kitschige Antwort», sagt sie beschämt, und SYB/LL versteht nicht und versteht es plötzlich doch. Wärme steigt in ihr Gesicht.

«Lass uns weggehen, nach Dakar, glaub mir, in vierzig Jahren sind die Flüge dahin unbezahlbar. Der 19. Dezember ist erst morgen, wir könnten noch heute weg von hier, weg von allen … Gefahren. Es gibt am Nachmittag einen Direktflug ab Zürich. Ich will nur noch schnell einem Freund aus der Zukunft ein Flugticket schenken.»

«Und ich möchte noch jemandem Adieu sagen», sagt Madleina. «Ich warte am Flughafen auf dich. Welche Uhrzeit noch mal?» Madleina zieht die Eintrittskarte und einen Kugelschreiber aus der Manteltasche.

Schneeflocken fallen aus fast violetten Wolken. Draussen warten die Flugzeuge. Die Abflughalle wirkt hell und warm. Madleina steht vor einem Café. Auf einem Bildschirm hinter ihr geht James Stewart neben Kim Novak in einen Wald, dunkle Baumriesen, die ältesten Lebewesen. Madleina spricht ins Gerät:

«Lars, ich hab dich an der Uni nicht gefunden, darum so: Ich weiss jetzt, dass wir keine Zukunft zusammen haben werden. Das ist mir heute im Museum klar geworden – mir ist was passiert, was Unerwartetes, Schönes, jemand, ich kann es nicht erklären. Es tut mir leid. Bitte such nicht nach mir. Tschau.»

Wieder und wieder spielt Dr. Lars Schwarz die Nachricht ab, als der Projektleiter in sein Büro stürmt: «Wir haben ein Problem. Der Mikrosensor.»

SYB/LL eilt durch die Abflughalle. Ein Klavier spielt. And I need you now tonight, and I need you more than ever. Der Schneesturm ist ein weisses Flackern. Da ist Madleina, sie lächelt, sie winkt ihr zu. I really need you tonight. Forever’s gonna start tonight. Diese Augen, sie will den Rest ihres Lebens neben diesen traurigsten Augen aufwachen. Da ist dieses Geräusch, das Zischen. Dr. Schwarz erscheint in der Menschenmenge – und drückt ab. Once upon a time I was falling in love, but now I’m only falling apart. SYB/LL fällt, sie sieht die traurigsten Augen und spiegelt sich dann im Gesicht eines Mädchens. Sie war da. Sie hat sich gesehen. Es war kein Traum. Es war wirklich. A total eclipse of the heart.

SYB/LL schreckt auf. Es ist höchste Zeit.

Martina Clavadetscher (1979) ist Dramatikerin und Prosaistin. Zuletzt erschien im Februar ihr Roman «Die Erfindung des Ungehorsams» im Unionsverlag, mit dem sie (wie schon 2017 für «Knochenlieder») für den diesjährigen Schweizer Buchpreis nominiert ist.

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