Abenteuer Tagesausflug: Hin und weg
Der Carchauffeur Peter «Pesche» Blatter fährt die schönsten Weihnachtsmärkte Europas an. Zum Beispiel den von Gengenbach im Schwarzwald. Ein Tagesausflug.
Ein verheissungsloser Freitagmorgen am Bahnhof Bern Wankdorf, Südausgang. Der ganz in Beton gehaltene Max-Daetwyler-Platz fügt sich nahtlos ins Grau des Dezemberwetters, eine Landschaft wie aus der Broschüre einer Freikirche. Vermissen Sie das Licht in Ihrem Leben?
Kein Grund zum Verzweifeln, die Erlösung steht keine zehn Meter entfernt: neunzehn Tonnen Gefährt in glänzendem Bordeauxrot. Ein Fahrzeug, dessen neumodisch-banale Bezeichnung in keinerlei Verhältnis zum vielschichtigen Vergnügen steht, das jährlich Tausende von Menschen dank ihm erleben dürfen: Car.
«Marti» prangt in weissen Lettern auf einem Farbverlauf, die Schrift ist eine stabile Aneinanderreihung serifenloser Buchstaben. Marti Reisen ist seit über hundert Jahren im Geschäft, ein Schweizer Familienunternehmen, das sich auf Gruppen- und Fernreisen spezialisiert hat. Zum Team gehören zwölf fest angestellte Chauffeur:innen und neunzig Aushilfen, zur Flotte 22 Cars und 2 Minibusse.
Dieses Exemplar, ein Setra S 515 HD aus dem Hause Daimler, hat, gemäss der Gütegemeinschaft Buskomfort e. V. mit Sitz in Baden-Württemberg, fünf Sterne. Für die Kund:innen bedeutet das: Sitzabstand von 83 Zentimetern, verstellbare Wohlfühlsitze, verstellbare Fussauflagen, Raumklimatisierung, Bordküche, Toilette.
Peter Blatter, 63 Jahre alt, steht mit Kugelschreiber und Klemmbrett an der Tür und hakt ab. Er stellt fest, dass Frau Kobel fehlt, und macht sich eine Notiz. Alle anderen sitzen bereits im Car, eine fröhliche Runde Menschen, Haare weiss oder gefärbt, Brillen randlos, Stimmung gesellig. Blatter passt gut hinein, er trägt Schnauz, die Augen blitzen. Nach dem festen Händedruck bietet er das Du an: «Pesche, gäu.» Er kommt aus dem Seeland, in seinen Dialekt will man sich reinlegen und nie wieder aufstehen.
Ziel ist der Weihnachtsmarkt in Gengenbach, einer kleinen Stadt im Schwarzwald, nahe Offenburg. Die «Perle unter den romantischen Fachwerkstädten», heisst es irgendwo im Internet, dazu Bilder von Häusern, Lichtern, Schnee. Es ist nicht die erste Stadt, die einem in den Sinn kommt, wenn man «Weihnachtsmarkt» hört. Auch nicht die zweite oder dritte. Trotzdem ist der Bus fast voll, Markt ist Markt, und Geschenke kaufen sich nicht von selbst.
Warten auf Frau Kobel
«Guete Morge mitenang», spricht Pesche langsam ins Mikrofon. Er steht neben seinem Sitz, ein Ungetüm in Schwarzgrau, gross, gefedert, saubequem. «Guete Morge», kommt es unisono zurück, man ist aus dem Kanton Bern und grüsst zurück. «Mir warte no uf d Frou Kobu. Kennt öpper d Frou Kobu?» Ja, sagt eine Gruppe im vorderen Segment des Cars, man wisse aber nicht, wo sie sei, vielleicht habe sie den Zug verpasst? Es folgt ein kurzer Exkurs zu Wetter und Zügen, die, «nidwahr», jetzt im Winter wieder öfter Verspätung hätten, und es könne sein, dass Frau Kobel den Zug verpasst habe, aber sie geht auch nicht ans Handy, man wisse also auch nicht. Pesche nickt und nutzt den Wartemoment, um den Car vorzustellen, die Bedienung der Leselampe zum Beispiel oder den verstellbaren Sitz. «Genau richtig zum Pfuuse.»
Ans Pfuuse denkt hier im Moment niemand, es ist kurz vor zehn Uhr morgens, und die Zeichen stehen auf Znüni. Gibt es, sagt Pesche, er habe extra was vorbereitet. Zöpfli, selbst gebacken! Kollektives Kichern. Pesche lächelt, der Witz ist nicht neu, was alle wissen, aber man lacht trotzdem, denn genau das ist Teil des Versprechens, für das die Leute heute 46 Franken pro Kopf bezahlen: Wir fahren Sie an einen traumhaften Ort, und wir nerven nicht. Keine Verspätungen, keine Reibereien, keine Überraschungen.
Frau Kobel sei krank, heisst es plötzlich, die Fahrt kann losgehen. «Auso, wohäre geits?», ruft Pesche. Allgemeines Lachen, auch von ihm. Dann die Eckpunkte: knapp drei Stunden Fahrt, kurzer Halt mit Kaffee und Zöpfli am Belchentunnel. Bei Fragen jederzeit fragen. Gehts mit der Temperatur?
Pesche ist gelernter Mechaniker, er hat drei erwachsene Söhne und lebt mit seiner Frau in Lyss im Kanton Bern. Nächstes Jahr sind es zehn Jahre, die er für Marti Car fährt. Er liebt seinen Beruf, das merkt man, auch ohne dass er es sagt. Aber seine Frau, die sei kein grosser Fan. Er verstehe sie, sagt er. Carfahrer haben unregelmässige Arbeitszeiten, fahren bis spätabends und am Wochenende. Bei Fern- und Rundreisen sind sie wochenweise weg. Deshalb finde man ja auch keine Jungen mehr, die sich für den Beruf begeistern liessen. Pesche wird kurz nachdenklich, aber da kommt auch schon der Belchentunnel, und die neunzehn Tonnen Fahrzeug müssen auf den schmalen Streifen Raststätte gelenkt werden. Kein Problem für Pesche, den Profi. Der Car kommt zum Stehen.
Ein Apfel gegen die Müdigkeit
Nach einer kurzen Durchsage begibt er sich an die Kaffeemaschine in der kleinen Bordküche am hinteren Ende des Fahrzeugs und drückt ein paar Knöpfe. Dann stellt er vorsichtig die vollen Pappbecher auf ein Tablett. Geht was daneben, wischt er es sofort auf. Früher, sagt er, habe er mal den Traum von einer eigenen Beiz gehabt. «Nüt verruckts, eifach e Beiz.» Es wurde nichts draus, und heute würde er es nicht mehr wollen. Die Menschen verlangten ständig Extrawürste, das sei ihm zu kompliziert.
Ganz anders hier im Car, auf der Route Gengenbach retour. Die Leute nicken zufrieden in ihr Kafi mit Rähmli und Zucker. Picobello. Pesche selbst trinkt keinen Kaffee, davon muss er auf Toilette. Müde werde man beim Carfahren aber schon manchmal, das kanns geben, und er kennt die Geschichten von Lastwagenfahrern, die Rauschmittel konsumieren, um wach zu bleiben. Für ihn persönlich sei das nichts. Sein Zaubermittel fällt bescheidener aus. «E Öpfu! Und wenns nid besseret, grad no e zwöite.» Helfe immer.
Es ist Zeit zum Weiterfahren, Pesche ermahnt zum Angurten und startet den Motor. Noch zwei Stunden bis zur Weihnachtspracht. Er selbst, sagt Pesche, kurz vor der Raststätte Autogrill Pratteln, sehe das mit dem Weihnachtsmarkt eher männlich. «Zwe Bratwürscht, e Glüehwyy, und i has gseh.» Ganz anders seien seine Fahrgäste, die in der Weihnachtszeit im Car sässen, nach Colmar, München, auch mal Köln. Die könnten stundenlang zwischen den Ständen flanieren. «Ganz ehrlech: Dasch nüt für mi.»
Wenn er die Gruppe abgeladen hat, wird Pesche mit dem Car auf einen Parkplatz fahren und einen Mittagsschlaf auf seinem Sitz halten. Schlafen kann Pesche überall. Das hat er vom Vater, der selbst dreissig Jahre Car fuhr. Er zieht das Mikrofon vor den Mund. Hier links sehe man den Rhein, sagt er, und fügt eine Einschätzung des Wasserstands hinzu: «Hochwasser, he.» Murmelnde Zustimmung. Dann die Roche-Tower und links das Tinguely-Museum. Ein bisschen Reiseleitung muss sein, auch wenn Pesche das eigentlich nicht so gerne macht.
Sehnsucht nach der Weite
Am liebsten mag er die Weite, die ihn erwartet, sobald er aus der Schweiz hinausfährt. Es sei eng in diesem Land, und es werde immer enger. Pesche macht ein nachdenkliches Geräusch. Zum ersten Mal bilden sich Falten auf seiner Stirn. Im selben Moment erscheint ein Gast und fragt nach einem Weisswein. Die Falten glätten sich. Da vorne im Kühlfach. Für wie viele Personen? Drei? Ja, da brauche es wohl zwei Fläschchen.
Als das mit dem Wein geklärt ist, erzählt Pesche von Skandinavien. Seine liebste Destination. Besonders das Nordkap hat es ihm angetan. Man sieht ihn vor sich, in weissem Hemd mit akkurat gebundener Krawatte in Rubinrot (gehört zur Uniform) und schwarzer Multifunktionsjacke (seine eigene), und es sieht richtig gut aus.
«Und iz», er steuert nach rechts, die Strasse ist plötzlich keine Autobahn mehr, «sy mer de öppe da.» Ein Stück pittoreske Innenstadt ragt selbstbewusst aus der industriellen Umgebung auf, viel Fachwerk, Kirchtürme, Efeu. Das Ziel ist erreicht. Pesche fährt den Bus an den Rand einer kleinen Strasse vor dem Eingang zur Altstadt. Er bedankt sich, die Leute klatschen fröhlich. Sie steigen aus, die Hände an den Umhängetaschen, als könnten sie es nicht erwarten, gleich viel Geld auszugeben. Pesche führt sie über die Strasse, dann verabschiedet er sich, um den Car auf dem Parkplatz der Sportanlage etwas weiter hinten zu parkieren.
In exakt fünf Stunden wird er wieder hier stehen, Krawatte ordentlich, Blick freundlich. Er schüttelt die Hand, lacht. Müde sieht er nicht aus, eher bei sich, zufrieden. «Zyt für mini Pouse», sagt er, damit kein Zweifel besteht, auch nicht für ihn. Der Car wartet.