Kulinarik der Zukunft: «Wir haben wieder festen gelernt»

Nr. 39 –

Am Montag Bohnen, am Dienstag Bohnen, ab und zu ein heimliches Gelage. Das Essen von morgen schwankt zwischen karg und exzessiv. Eine Kaninchenzüchterin aus dem Jahr 2061 erzählt.

Illustration: Nando von Arb

«Was brauchst du? Kaninchen? Lebend oder gehäutet? Was? Die Hinterpfoten noch dran? Ok, ok … Und du weisst, dass ich keine Fleischlizenz habe? Ja. Gut.

Das habe ich Lena auch gesagt, als sie mit der Geiss gekommen ist. Dass ich keine Lizenz habe. Aber sie hat nur gegrinst. Das erste und letzte Mal, dass wir allein miteinander geredet haben. Seither schlafe ich nicht mehr viel.

Dabei kannte ich Lena schon lange vom Sehen, wir wohnen schliesslich im gleichen Quartier. Schon bevor sie den Wettbewerb gewonnen hatte. Den Hauptpreis des BFF, des Bundesamts für Food. Ich freute mich, als die neue Agrarministerin gewählt wurde, Nisanur Martinelli. Und ich hatte recht. Der Wettbewerb war ihre Idee, so einfach und so klug: Wer auf einer Hektare gleichzeitig möglichst viele Kalorien erntet und die grösste Biodiversität erreicht, gewinnt. Wissenschaftlich begleitet und regional abgestuft, natürlich hast du in Basel nicht die gleichen Arten wie im Engadin.

Und dann hat Lena gleich beim ersten Mal gewonnen. Mit ihren Haselnusshecken, der Pilzzucht im Unterholz, den Marronibäumen, dem Topinambur auf der Lichtung – sie hat das Konzept Waldgarten perfektioniert, Licht und Schatten genial ausgenutzt. Und zwei kleine Schweine integriert – ich kann mir vorstellen, wie sie sich freute, als sie merkte, dass die Kalorienbilanz mit den Schweinen tatsächlich besser ist als ohne. Ha, Veganer:innen! Aber freiwillig vegan ist eh fast niemand mehr. Weil alle unfreiwillig fast vegan sind. Am Montag gibts Bohnen, am Dienstag gibts Bohnen und am Mittwoch immer noch keinen Gorgonzola.


Und dauernd der Streit im Parlament, ob die dort oben in den Bergen, wo die Tierhaltungsbeschränkungen weniger streng sind, weils zu steil ist für Härdöpfel, ob die dort oben ihren Käse den Meistbietenden im Unter- und Ausland verkaufen dürfen. Oder ob alle in diesem Land das Recht auf eine Ration Käse haben. ‹Planwirtschaft!›, schimpft dann immer die GLFDP, und die SVP weiss nicht recht, was sie schimpfen soll, denn die dort oben wählen sie und hätten gern Höchstpreise. Die hier unten, die gern etwas Käse hätten, aber auch.

Das Zäunen war aufwendig, hat Lena erzählt, schliesslich musste sie aufpassen, dass die Schweine den Topinambur nicht ausgruben. Aber es hat sich gelohnt. Mit dem Preis konnte sie eine Hektare dazukaufen. Dort experimentiert sie jetzt mit Geissen. Denen füttert sie vor allem das Laub der Obstbäume und Haselnusssträucher. Sie lieben es, aber sie sind gefrässig. Fünf Geissen sind eine zu viel, hat sie bald gemerkt. Darum ist sie zu mir gekommen. Hat mich gefragt, welchen Preis ich ihr machen könnte, Schlachtgewicht. Die Geiss war schon alt.

Versteh mich nicht falsch, die neuen Regeln sind schon gut. War ja krank, wie viel Fleisch die Leute vor vierzig Jahren gegessen haben, als ich jung war. Seit 2049 gilt jetzt das ‹Feed no Food›-Gesetz: ‹Die Verfütterung von Rohstoffen, die für die menschliche Ernährung geeignet sind, ist nicht zulässig.› Daran halte ich mich auch – meine Kaninchen fressen nur Grünzeug, und die Schweine, die mir Hansi zweimal im Jahr zum Schlachten bringt, haben nur Gastro- und Gemüseabfälle bekommen. Ich bin doch nicht unmoralisch, bloss nicht lizenziert. Mein Fleisch taucht nicht auf in der Statistik. Aber die Leute reissen sich drum. Jetzt gibt es halt legales und illegales Essen. Untergrundgelage. Die Jungen lieben es, kannst du dir ja vorstellen, tauschen Flyer mit Rätseln; wer sie lösen kann, findet vielleicht den richtigen Hinterhof. Viel aufregender als Kiffen, das machen heute ja sowieso vor allem die Alten.


Ja, wir haben wieder festen gelernt. Ein Pilzfest, ein Zuckerfest, ein Fruchtfest im September, an dem sich alle betrinken. Ein Schlachtfest im Spätherbst und eins nach der Fasnacht – nein, nicht während der Fasnacht, da gibts zu viele Kontrollen. Zweimal im Jahr Blutwurst, das brauche ich einfach. Da freue ich mich wochenlang drauf, nicht wie früher, als das Fleisch so pervers billig war. Damals war ich noch vegan.

Offiziell verkaufe ich nur Hanf und Bier. Da gibt es keine Beschränkungen: ‹Hanf ist das Rückgrat der alpinen Landwirtschaft›, sagt die Ehrenpräsidentin des Hanfverbands, Rebecca Clopath, immer wieder. Vor vierzig Jahren war sie berühmt, weil sie so kochte, wie es heute fast alle tun: lokal halt. Und so fein wie möglich. Wir haben ja Zeit.

Wir fermentieren und marinieren, steigen auf Berge und suchen seltene Kräuter, züchten neue Beerensorten, räuchern alles Mögliche und Unmögliche, erfinden Kühlsysteme, die ohne Strom funktionieren. Auch auf öffentlichen Grünflächen dürfen nur noch Sträucher und Bäume wachsen, die etwas zum Essen hergeben. Und bei den Tieren geben wir uns ganz besonders Mühe: kochen jeden Knochen aus, bereiten Pasteten aus Herz und Lunge, mischen Mangold ins Fleisch, damit die Wurst grösser wird.

Es stimmt, was Rebecca zum Hanf sagt: Samen, Öl, Medikamente, Rauschmittel, Textilfasern, sogar Baumaterial – Hanf hat eine so geniale Input-Output-Bilanz, dass nicht einmal mehr die SVP etwas dagegen sagen kann. Das Kleid, das Nisanur Martinelli an Staatsempfängen gern trägt, ist aus Hanf, genauso wie ihre Büromöbel. Lena hatte auf ihrer Versuchsparzelle zuerst keinen Hanf eingeplant – ‹das ist ausgereizt, dazu forschen schon so viele›. Aber als sie gemerkt hat, wie viele verschiedene Vögel auf diesen Stauden landen, hat sie ihre Meinung geändert. Und das Hanföl passt perfekt zu den Haselnüssen und dem Topinambur.

Gegen Bier kann auch niemand etwas sagen: Ist vegan, hat Kalorien, und vergären kannst du fast alles. Als Nächstes wollte ich Lena fragen, ob sie nicht bei mir einsteigen will: ‹Lenas Waldgarten-Mirabellenbier›, das würden die Leute doch lieben. Und ich hätte einen Grund, sie regelmässig zu treffen.


Aber warum soll sie sich für eine Frau interessieren, die doppelt so alt ist wie sie? Jetzt ist eh alles anders. Jetzt hat Lena eine Anzeige am Hals, weil sie gegen das ‹Feed no Food›-Gesetz verstossen hat. Ausgerechnet Lena, Vorbild der Nation. Zehn Hühner hat sie heimlich gemästet, mit Weizen und Soja, wie früher. Denn sie will heiraten. Sie wollte Alizé, ihrer Braut, eine Freude machen. ‹Ich kann ihren Verwandten doch nicht so magere Vögel auftischen›, hat sie geschluchzt, live im Newsfeed, die Tränen sind ihr vom Kinn getropft.

Hätte sie doch mich gefragt, mich hätten sie nicht erwischt. Aber ich glaube, sie kommt mit einer Geldstrafe davon. Und wird auch die Forschungslizenz nicht verlieren. Denn jetzt lieben sie alle noch mehr. Weil sie auch Schwächen hat.»

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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