Zehn Jahre Arabischer Frühling: Die Parallelwelt des Exils
Istanbul hat sich seit 2011 zur wohl wichtigsten Metropole für arabische Menschenrechtsaktivisten, Journalistinnen und Oppositionelle entwickelt. Zu Besuch bei der ägyptischen Diaspora.
«Noch vier Minuten», sagt Ahmed Samih, während er durch den Flur läuft. Er betritt den Regieraum, wo sein Team bereits an den Monitoren sitzt, geht weiter und schliesst die Tür zum Studio hinter sich. Kurz darauf erscheint er auf den Bildschirmen wieder.
Als die Sendung «Al-Hikaya» beginnt, spricht Samih zunächst über den Putsch in Myanmar, bevor er auf die Situation in seiner Heimat Ägypten zu sprechen kommt. Beim Reden stockt er ab und zu – was daran liege, dass er öfter mal vom Skript abweiche, wie er danach erzählt. Zum anderen fehlt ihm vermutlich die Routine, schliesslich ist das Moderieren live am Fernsehen für den Mann Anfang vierzig etwas Neues.
Seit anderthalb Monaten hat Samih beim Fernsehsender El Sharq seine eigene Talkshow. Eigentlich ist er ein bekannter Menschenrechtsaktivist: 2004 baute er in Kairo eine NGO auf, 2007 gründete er den Radiosender Horytna, der über Menschenrechte in Ägypten und dem Nahen Osten berichtete. 2016 jedoch musste er seine Heimat Hals über Kopf verlassen. Er wurde gewarnt, dass das Regime seine Verhaftung plane, das Regime von Abdel Fattah al-Sisi, der sich 2013 an die Macht putschte und seither noch repressiver gegen sämtliche Kritiker:innen vorgeht, als es der langjährige Diktator Hosni Mubarak je tat.
Samihs Glück war, dass er eine Aufenthaltsgenehmigung für Estland besass. So konnte er Ägypten verlassen, bevor ihn die Behörden festnahmen. Als ihn der Sender El Sharq mit Sitz in Istanbul anfragte, ob er eine eigene Talkshow moderieren wolle, sagte er zu. «Für mich ist das eine Gelegenheit, noch mehr Menschen zu erreichen», sagt Samih.
TV-Sender in der Industriezone
Die Studios von El Sharq befinden sich eine halbe Stunde Autofahrt ausserhalb des Stadtzentrums der türkischen Grossstadt. In den umliegenden Gebäuden sind Autogaragen angesiedelt, ein Industriepark, in dem man kaum einen Fernsehsender vermuten würde. Der Boden des Eingangsbereichs ist übersät mit Requisiten. Ansonsten wirken die Gänge und die Büros – die Räumlichkeiten des Senders erstrecken sich über gerade mal zwei Stockwerke – unscheinbar, ja fast heruntergekommen.
Auf Youtube bringt es der Sender dennoch auf 2,5 Millionen Abonnent:innen. El Sharq wurde vom ägyptischen Oppositionspolitiker Aiman Nur gegründet, der als liberal gilt. Er ist einer von drei Fernsehsendern der ägyptischen Opposition in Istanbul. Die anderen beiden stehen der Muslimbruderschaft nahe.
Als unparteiisch kann man also keinen der Sender bezeichnen – eher als Plattformen verschiedener Strömungen der Opposition. Doch sie alle seien ein wichtiges Gegengewicht für die ägyptische Öffentlichkeit, ist Ahmed Samih überzeugt: «Das Regime denkt, der grösste Fehler Mubaraks sei es gewesen, dass er einige wenige unabhängige Medien zugelassen habe.» Deswegen wolle das Regime jegliche Kritik zum Schweigen bringen. «Sie wollen die einzige Stimme in Ägypten sein. Die Stimme von ‹Big Brother›.»
Es ist kein Zufall, dass ausgerechnet Istanbul sich zum Hub der ägyptischen Opposition und ihrer Medien entwickelt hat. Nach dem Putsch gegen Mursi flohen Tausende Anhänger:innen der Muslimbrüder aus Ägypten in die Türkei. Hier wurden sie von Präsident Recep Tayyip Erdogan mit offenen Armen empfangen: Der türkische Machthaber, der versucht, sich selbst als neuen Anführer in der Region zu etablieren, steht der islamistischen Gruppierung der Muslimbrüder nahe.
Doch Istanbul ist mehr als ein sicherer Hafen für die Muslimbrüder. Rund 30 000 Ägypter:innen leben heute hier, darunter viele, die sich wie Samih als Teil der säkularen Opposition verstehen. Hinzu kommen Aktivistinnen und Journalisten aus fast allen arabischen Ländern: Libyen, Jemen, Irak, Saudi-Arabien und natürlich Syrien.
Die meisten von ihnen waren während der arabischen Aufstände 2011 aktiv – und mussten wegen zunehmender Repression und Krieg aus ihren Ländern fliehen. Dass es so viele in die Türkei zog, hat zunächst praktische Gründe: Verglichen etwa mit Europa, ist es für die meisten noch immer einfach, hier ein Visum und eine Aufenthaltsbewilligung zu bekommen.
Ein weiterer Grund: In Istanbul sind sie so frei wie kaum sonst wo in der Region, die arabischen Regimes weiterhin zu kritisieren. So erzählt Mosaad Albarbary, der Programmleiter beim Sender El Sharq, wie er nach dem Putsch in Ägypten 2013 zunächst versucht habe, in Beirut einen Fernsehsender als Gegengewicht zur Regimepropaganda aufzubauen. Doch dann deportierten ihn die libanesischen Behörden nach Ägypten, wo er verhaftet wurde und dreieinhalb Jahre lang im Gefängnis sass. In den Vereinigten Arabischen Emiraten, die sehr um ihr Image als toleranter Staat bemüht sind, wurde vor einem Jahr ein Jordanier zu zehn Jahren Haft verurteilt, weil er in einem Facebook-Post die – jordanische – Regierung kritisiert hatte.
Von Istanbul aus jedoch könne er in seiner Talkshow nicht nur das ägyptische Regime, sondern auch die Muslimbruderschaft kritisieren, betont Ahmed Samih. Und das tut er auch regelmässig, denn Samih, der sich selbst als Liberalen bezeichnet, sieht einen Teil der Verantwortung für die Entwicklung der letzten Jahre bei den Muslimbrüdern und den Fehlern, die sie während ihrer Regierungszeit gemacht hätten.
Zehn Jahre nach dem Arabischen Frühling also wurde aus der türkischen Grossstadt die wahrscheinlich wichtigste panarabische Metropole. In Stadtteilen wie Fatih, wo sich jemenitische Restaurants an Konditoreien aus Aleppo reihen, könnte man beinahe vergessen, dass die Amtssprache hier Türkisch und nicht Arabisch ist. Im grössten arabischen Buchladen, Shabaka al-Arabiyya, einem Treffpunkt der arabischen Intellektuellen in Istanbul, fanden vor der Coronapandemie jede Woche Lesungen oder Konzerte statt.
Irritierende Widersprüche
Dabei ist dieses arabische Istanbul eine Parallelwelt, die in starkem Widerspruch zu den Entwicklungen in der Türkei der letzten Jahre steht. Nicht nur, weil sie eine Vielfalt repräsentiert, die die Regierung Erdogan in der türkischen Gesellschaft mehr und mehr einzuschränken versucht, sondern auch, weil die arabischen Aktivist:innen eine Meinungsfreiheit geniessen, die für türkische und kurdische Kritiker:innen immer weniger gilt.
Zwar sind viele arabische Aktivist:innen überzeugt, dass ihr Dasein in Istanbul im Wesentlichen ein Resultat von Erdogans Politik ist und dass ihr Status in der Türkei, sollte die Opposition die kommenden Wahlen gewinnen, akut gefährdet wäre. Trotzdem ist die arabische Gemeinschaft in der Stadt von einer Vielfalt geprägt, die man in der Türkei Erdogans leicht übersehen kann – weil sie so gar nicht zu dessen Anspruch passen will, die Türkei als neuen, religiösen Führungsstaat in der islamischen Welt zu etablieren.
Ein Beispiel für diese Komplexität sind die ägyptischen Muslimbrüder. Nach den Aufständen 2011 stellte die Partei mit Muhammad Mursi zwei Jahre den Präsidenten in Ägypten. Als dieser 2013 von General Sisi gestürzt wurde, kühlten die diplomatischen Beziehungen zwischen der Türkei und Ägypten schlagartig ab. Zehntausende Anhänger:innen der Muslimbrüder mussten fliehen, und viele zog es in die Türkei.
Bevor sie hierherkamen, hatte die Türkei, die sie sich vorstellten, vermutlich mehr mit den Bildern in «Ertugrul» zu tun, einer türkischen Serie, die in epischer Länge vom Aufstieg und von den Heldenkämpfen des Stammes der Osmanen im 13. Jahrhundert erzählt, als mit der modernen, vielschichtigen Metropole, die Istanbul heute ist. «Das Leben hier ist nicht einfach für den durchschnittlichen Muslimbruder, der aus einem ägyptischen Dorf gekommen ist», sagt Ahmed Samih. «Sie denken, die Türkei müsse ein islamischer Staat sein. Dann sehen sie, wie während des Ramadans manche Leute Fasten brechen und andere Alkohol trinken.»
Das bestätigt auch der ägyptische Journalist Oday Said, der zu den Muslimbrüdern in Istanbul recherchiert hat. Er will seinen richtigen Namen nicht nennen – auch er musste Ägypten 2014 verlassen, und noch heute würde der Geheimdienst manchmal bei seiner Familie vorbeigehen und nach ihm fragen. «Manche Muslimbrüder versuchen, sich den Widerspruch so zu erklären, dass Erdogan einen langfristigen Wandel der Türkei anstrebt», sagt Said.
Am Ende jedoch könnten sich auch konservative Anhänger:innen der Muslimbrüder der Realität nicht entziehen: Viele hätten ihren Lebensstil geändert, fingen etwa an, Alkohol zu trinken, oder hörten auf, den Islam täglich zu praktizieren. Ein Phänomen, sagt Said, das man etwas anders schon in den fünfziger und sechziger Jahren beobachten konnte. Als sich die damalige Muslimbruderschaft mit dem ägyptischen Präsidenten Gamal Abdel Nasser überwarf und ihre Anhänger:innen nach Saudi-Arabien ins Exil mussten, kamen sie Jahre später mit langen Bärten und im Nikab zurück nach Kairo. «Jetzt passiert das Gleiche – nur eben umgekehrt», sagt Said. Ausgerechnet die arabischen Muslimbrüder, deren Präsenz in Istanbul so gut ins Bild der immer konservativeren Türkei passt, werden hier immer liberaler.
Abhängig vom politischen Goodwill
Doch auch wenn Istanbul heute vermutlich so arabisch geprägt ist wie noch nie seit der Gründung der Republik Türkei und selbst wenn die Stadt zu einem Hub für breite Kreise der arabischen Zivilgesellschaft wurde – deren Präsenz hier ist langfristig alles andere als gesichert. Während es zwar vergleichsweise einfach ist, ein Visum und eine Aufenthaltsgenehmigung zu bekommen, so ist es für die meisten nicht vorgesehen, dass sie irgendwann die türkische Staatsbürgerschaft erhalten. Damit bleiben sie abhängig vom politischen Goodwill der türkischen Regierung.
Und wie schnell sich die Situation ändern kann, zeigt sich seit dem Frühling dieses Jahres. Zum ersten Mal seit langem kommt es wieder zu einer Annäherung zwischen den Regierungen in Ankara und Kairo – im Bestreben, die Beziehungen zwischen den beiden Ländern zu normalisieren. Unter vielen Ägypter:innen in der Türkei löst die Ankündigung indes Unbehagen aus. Denn ihre grösste Angst ist es, dass sie ihre Aufenthaltsbewilligung in der Türkei verlieren und nach Ägypten zurückkehren müssen, wo vielen die Verhaftung droht.
Das geschah bisher zwar nicht. Allerdings bat die türkische Regierung im Zuge der Gespräche mit Kairo die oppositionellen Fernsehsender, ihre Kritik am ägyptischen Regime zu mässigen. Ahmed Samih, der erst danach seine Show anfing, sagt jedoch, er fühle sich dadurch nicht eingeschränkt. «Die Forderung war, dass ägyptische Offizielle nicht mehr beleidigt würden», sagt er. Er jedoch brauche für seine Kritik ohnehin keine persönlichen Beleidigungen.
Auch der Programmleiter Mosaad Albarbary sagt, dass die Einschränkungen für ihre Arbeit nicht einschneidend seien. Und wenn sie es irgendwann sein sollten? «Dann müssen wir einen anderen Standort für unseren Sender suchen.»