Polnisches Urteil: Das kann nicht gut gehen

Nr. 41 –

Nach einem umstrittenen Entscheid des polnischen Verfassungsgerichts steht die Zukunft des Landes in der Europäischen Union auf dem Spiel.

Der Entscheid trieb am vergangenen Sonntag Zehntausende Demonstrant:innen auf die Strasse: Das polnische Verfassungsgericht war am 7. Oktober zum Schluss gekommen, dass mehrere Bestimmungen der EU-Verträge nicht über Polens Verfassung stehen. Konkret ging es um Bestimmungen, mit denen die EU-Kommission ihr Mitspracherecht bei Fragen der Rechtsstaatlichkeit begründet. Veranlasst wurde die richterliche Beurteilung durch Ministerpräsident Mateusz Morawiecki von der Regierungspartei Recht und Gerechtigkeit (PiS). Sie riskiert mit ihrem Vorgehen einen offenen Bruch mit der EU.

Auf den ersten Blick mag es wie ein zweitrangiger Streit um justizielle Kompetenzfelder aussehen. Tatsächlich geht es aber um die Fundamente, auf denen die EU steht. Der Vorrang von EU-Recht gegenüber der nationalen Gesetzgebung der 27 Mitgliedstaaten ist eine Voraussetzung für das Funktionieren der Union. Doch er ist nicht nur in Polen umstritten. Zuletzt hatte im Mai 2020 das deutsche Bundesverfassungsgericht für Aufsehen gesorgt, als es in einem Urteil ein Anleiheprogramm der Europäischen Zentralbank sowie dessen Absegnung durch den Europäischen Gerichtshof als «ausbrechenden Rechtsakt» bezeichnete, weil er unzulässig in den Kompetenzbereich der Mitgliedstaaten eingreife. Die EU-Kommission leitete daraufhin im Juni dieses Jahres ein Vertragsverletzungsverfahren gegen Deutschland ein – und die Bundesregierung gab jüngst klein bei, um eine Eskalation zu vermeiden.

EU reagiert scharf

Entsprechend scharf reagiert die EU-Kommission nun im Fall Polens. Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat klargestellt: «EU-Recht hat Vorrang vor nationalem Recht, einschliesslich verfassungsrechtlicher Bestimmungen.» Und Justizkommissar Didier Reynders sagte, man werde alle verfügbaren Werkzeuge nutzen, um «sicherzustellen, dass die Grundprinzipien der EU gewahrt werden». Es deutet sich an, dass Brüssel nun schweres Geschütz auffahren wird. Im Gespräch sind finanzielle Strafen, die fortwährende Zurückhaltung der Mittel aus dem Corona-Wiederaufbaufonds und gar das Einfrieren regulärer Zahlungen aus dem EU-Haushalt.

Klar ist: Das Urteil war politisch «bestellt». Die Verfassungsrichter gelten als Marionetten der PiS um deren Chef Kaczynski. Die Rechtspartei will sich bei den geplanten Justizreformen, die einem autoritären Staatsumbau nach ihrem Geschmack dienen, nicht von Brüssel dreinreden lassen. Und sie scheint derzeit wenig zu verlieren zu haben, denn die Kommission hält bereits jetzt die Auszahlung milliardenschwerer EU-Wiederaufbauhilfen wegen Zweifeln an der Rechtsstaatlichkeit der Justizreformen zurück und kritisiert immer wieder die autoritären Machenschaften der PiS. Der Konflikt wird Polen und voraussichtlich auch die EU nachhaltig beschäftigen, da er faktisch nicht lösbar ist: Die PiS kann ohne den Vorrang des polnischen Rechts ihre «Staatsübernahme» nicht vollenden, die EU ihrerseits einen Präzedenzfall nicht dulden, in dem der Vorrang von EU-Recht missachtet wird.

PiS befeuert Ängste

Auch wenn sie am längeren Hebel sitzt, muss die EU ihre nächsten Schritte gut abwägen. Angesichts der hohen Zustimmung der Pol:innen zur EU-Mitgliedschaft glaubt Brüssel, die PiS in die Ecke und in die Niederlage bei den nächsten Wahlen treiben zu können. Doch die Nationalisten haben sich den Staat inzwischen derart einverleibt, dass sie ihn nicht mehr hergeben wollen – koste es, was es wolle. Zwar betonen Kaczynski und seine Getreuen unisono, ein «Polexit» stehe nicht zur Debatte.

Gleichzeitig bedienen sie aber eine Kriegsrhetorik. Diese wird durch weitere Eskalationen und propagandistisches Ausschlachten der angespannten Situation an der polnisch-belarusischen Grenze befeuert. Dort wurde Anfang September der Ausnahmezustand ausgerufen und kürzlich bis Dezember verlängert (siehe WOZ Nr. 38/21 ). Die Rechnung der PiS ist simpel: Der durch den Konflikt mit der EU verursachte Verlust von Zustimmung soll mit Ängsten vor Geflüchteten und vor einem «hybriden Krieg» kompensiert werden. Die PiS verspricht, für Sicherheit zu sorgen – eigenständig und ohne Hilfe der EU-Grenzagentur Frontex. Diese brauche man ebenso wenig wie die EU-Mittel, meinten kürzlich sowohl Ministerpräsident Morawiecki als auch Kaczynski. In diesem Szenario wird die PiS den Konflikt an der Grenze nicht lösen, sondern eskalieren lassen. Es dürfte kein Zufall gewesen sein, dass am Tag des Urteils des Verfassungsgerichts das PiS-Staatsfernsehen erstmals von Schüssen durch belarusische Soldaten auf die polnische Seite berichtete.