Transnationale Repression: Jagd über Grenzen hinweg
Von Jamal Khashoggi bis Roman Protasewitsch: Autoritäre Staaten verfolgen ihre Kritiker:innen vermehrt auch im Ausland. Dabei setzen sie auf Botschaften, Spitzel und Spionagesoftware.
Gut möglich, dass Paul Rusesabagina nie wieder in Freiheit leben wird. Ende September wurde der 67-jährige ruandische Regierungskritiker in Kigali wegen Terrorvorwürfen zu 25 Jahren Gefängnis verurteilt. Bis heute ist nicht klar, unter welchen Umständen der eigentlich im US-Exil lebende Rusesabagina im August 2020 nach Ruanda gekommen ist. Gemäss Angaben seiner Familie wurde er bei einer Zwischenlandung in Dubai entführt und nach Kigali verschleppt. Der Verurteilte selbst sagte in einem Interview mit der «New York Times», er sei während einer Vortragsreise in die Irre geführt worden; er sei nicht – wie eigentlich geplant – nach Burundi, sondern nach Ruanda geflogen worden. Das Interview wurde in einer Zelle geführt, in Anwesenheit von ruandischen Beamt:innen.
«Es sieht nach einem klaren Fall von grenzüberschreitender Repression aus. Ein Dissident im Ausland kritisierte die Regierung und wurde nach Ruanda zurückgelockt, um ihn inhaftieren zu können», sagt dazu Alexander Dukalskis, Politikwissenschaftler an der Universität Dublin und Autor des kürzlich erschienenen Buchs «Making the World Safe for Dictatorship».
Wie einst bei Trotzki
«Transnationale Repression», Unterdrückung über die Grenzen hinweg: So nennen Expert:innen die Massnahmen von Staaten, um vermeintliche Gegnerinnen und Kritiker im Ausland zum Schweigen zu bringen. Betroffen sind vor allem politische Gegnerinnen, Journalisten, Menschenrechtler:innen sowie Angehörige ethnischer und religiöser Minderheiten. Das Phänomen ist keineswegs neu. So liess der sowjetische Diktator Josef Stalin seinen Rivalen Leo Trotzki auf der ganzen Welt verfolgen. Der Revolutionär wurde schliesslich 1940 im Exil in Mexiko-Stadt von Stalins Agenten ermordet. Heute seien Millionen Menschen von transnationaler Repression betroffen, heisst es in einer im Frühling erschienenen Studie der US-amerikanischen NGO Freedom House.
Auch Gerasimos Tsourapas, der am Institut für Internationale Beziehungen an der Universität Glasgow zum Thema forschte, erkennt eine Zunahme der grenzüberschreitenden Repression. «Die Migration hat zugenommen, durch die Globalisierung ist das Reisen leichter geworden, immer mehr Menschen in der Diaspora nutzen soziale Medien für die Verbreitung politischer Inhalte. Wer seine Heimat verlassen hat und in ein demokratischeres Land ausgewandert ist, kann seine Stimme meist lautstarker einsetzen», sagt er.
Ein weiterer Grund für den Trend sei eine globale Normverschiebung. «Weltweit hat auch die rechte Politik zugenommen, die auf Überwachung setzt», so Tsourapas. Es seien überwiegend autoritäre Regierungen, die transnationale Repression einsetzten: China, die Türkei, Saudi-Arabien, Ruanda, Russland und der Iran gelten laut der Studie als aggressivste Repressor:innen. Aber auch demokratischere Länder wie Kanada oder Grossbritannien mischen mit.
Spektakuläre Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit sind die Fälle von Jamal Khashoggi und Roman Protasewitsch. Ersterer betrat im Oktober 2018 das saudische Konsulat in Istanbul; dort wurde der Regimekritiker mutmasslich auf Befehl des saudischen Kronprinzen Muhammad Bin Salman ermordet. Im Mai wiederum hatte das belarusische Regime von Alexander Lukaschenko in Minsk eine Ryanair-Maschine zur Landung gezwungen, um den im Exil lebenden oppositionellen Journalisten Protasewitsch festnehmen zu können. Dieser befindet sich seitdem mit seiner Freundin in Arrest.
Laut der Freedom-House-Studie machen physische Angriffe nur einen Bruchteil der Verfolgung aus; weitaus verbreiteter sind die «alltäglichen transnationalen Unterdrückungen»: Personen aus der Diaspora werden als Spitzel angeheuert, Botschaften sammeln Informationen über missliebige Exilant:innen, und es wird Software eingesetzt, um Angehörige und Freundinnen zu überwachen. So wurde kürzlich publik, dass das Telefon von Khashoggis Verlobter mit der Pegasus-Überwachungssoftware infiltriert war. «Es ist sehr schwierig, einer Regierung die transnationale Repression nachzuweisen; die meisten Fälle bleiben unentdeckt», sagt Tsourapas.
Gerüchte als Waffe
Der Hutu Paul Rusesabagina soll während des Völkermords in Ruanda 1994 mehr als tausend Menschen – meist Tutsi – in einem Hotel Unterschlupf gewährt haben, das er stellvertretend leitete. Später zog er ins Exil, wo er sich als Kritiker von Ruandas langjährigem Präsidenten Paul Kagame betätigte. Der Hollywoodfilm «Hotel Ruanda» machte ihn international bekannt. Doch sein Image bekam Risse. Rusesabagina wurde von Überlebenden und der Regierung beschuldigt, von Geflohenen Geld genommen zu haben. Erhärten liessen sich die Vorwürfe nie – sie könnten auch Teil einer Kampagne sein. Ein solches Vorgehen würde man gemäss Tsourapas als «low cost»-Repressionen bezeichnen: Gerüchte werden verbreitet oder anonyme Mails mit Drohungen verschickt. Zwar könnten sich die Betroffenen mit anderen Aktivist:innen zusammentun und sich an lokale Behörden oder NGOs wenden. «Aber insgesamt können sie wenig dagegen tun.»
Vor allem aus einem Staat hat laut Freedom House in den vergangenen Jahren die transnationale Repression stark zugenommen: Seit dem gescheiterten Putschversuch 2016 in der Türkei habe Ankara seine vermeintlichen Feinde in über dreissig Ländern verfolgen und in die Türkei zurückbringen lassen. Am stärksten betroffen sind Anhänger:innen des in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen, den Präsident Recep Tayyip Erdogan für die Revolte verantwortlich macht. In letzter Zeit seien aber auch vermehrt Kurd:innen und Linke ins Visier geraten. Auch in einem anderen Punkt liegt die Türkei an der Spitze: beim Missbrauch von Interpol. Innerhalb kürzester Zeit nach dem vereitelten Putsch soll Ankara versucht haben, rund 60 000 Namen bei der internationalen kriminalpolizeilichen Organisation zu melden, um Festnahmen und Auslieferungen zu erleichtern.
Prominentestes Beispiel dafür ist der Journalist Can Dündar. Nachdem dieser 2015 über mögliche Waffenlieferungen des türkischen Geheimdiensts an islamistische Milizen in Syrien berichtet hatte, erstattete Erdogan persönlich Anzeige gegen ihn und forderte eine lebenslange Haftstrafe. Dündar floh nach Berlin. Sein Vermögen wurde beschlagnahmt. Seine Frau konnte ihm erst 2019 illegal folgen – die Regierung hatte ihr zuvor den Pass abgenommen.
Sanktionen wirken kontraproduktiv
Zwar werden nach einer transnationalen Verfolgung gelegentlich Sanktionen ergriffen. Nach der erzwungenen Landung der Ryanair-Maschine mit Roman Protasewitsch an Bord liess etwa die EU ihren Luftraum für belarusische Flugzeuge sperren. Doch die Unterdrücker lassen sich in der Regel nicht abschrecken. «Gegenmassnahmen sind praktisch und politisch schwierig. Sanktionen sind oft von begrenztem Nutzen und manchmal kontraproduktiv», sagt Politikwissenschaftler Dukalskis.
Sein Kollege Tsourapas teilt die Einschätzung. «Der beste Weg ist es, auf eine Veränderung in den jeweiligen Ländern zu drängen, gegebenenfalls den Druck zu erhöhen und das Bewusstsein für dieses Thema zu schärfen», sagt er. Allerdings bleibt Tsourapas skeptisch: «Transnationale Repression wird noch zunehmen. Vor allem durch soziale Medien wird es für Regierungen leichter, Kritiker gezielter ausfindig zu machen.»