Ruanda: Liebe in Zeiten des Genozids

Ein kanadischer Roman und der Bericht eines kanadischen Uno-Generals befassen sich mit der ruandischen Tragödie.

«Das grosse Massaker steht noch bevor, grösser als alles, was Ruanda und Burundi je erlebt haben», lässt der Autor des soeben in deutscher Übersetzung erschienenen Romans «Ein Sonntag am Pool in Kigali» den Ruander Landouald zu der Hauptfigur, dem aus Montreal stammenden Fernsehjournalisten Bernard Valcourt, sagen. «Unsere einzige Chance sind die Blauhelme und dein kanadischer General. Aber, wie die separatistische Hélène sagen würde, er ist ein echter Kanadier, müder Abklatsch eines Schweizers, ein Beamter, der sich Wort für Wort an die Vorschriften hält. Und in diesem Land bist du, wenn du dich an die Vorschriften hältst, hundert Tote zu spät.»

Jener derart sarkastisch apostrophierte kanadische General ist keine fiktive Figur: Roméo Dallaire heisst er, 1993 hatte er das Kommando über die Uno-Mission für Ruanda übernommen, deren Auftrag lautete, das im tansanischen Arusha zwischen der ruandischen Regierung und der Tutsi-Rebellenarmee FPR geschlossene Friedensabkommen zu überwachen. Dallaire hat sich drei Jahre nach Erscheinen des Romans seines Landsmanns Gil Courtemanche mit dem in beiden Landessprachen publizierten, 700 Seiten starken Ruanda-Bericht «Ich gab dem Teufel die Hand» – wie der Titel deutsch zu übersetzen wäre – zu Wort gemeldet.

Alle blieben untätig

Der im Roman formulierte Sarkasmus diesem Uno-General gegenüber erscheint im Spiegel des erwähnten Berichts zwar nicht unberechtigt, aber ungerecht. Der aus einer Soldatenfamilie stammende Dallaire ist weder Journalist noch Schriftsteller, doch so kanadisch-blauäugig, wie der gelernte Journalist Gil Courtemanche ihn erscheinen lässt, darf man sich Dallaire auch nicht vorstellen. Bereits Monate vor dem Beginn der Massaker war der General darüber in Kenntnis gesetzt, dass sich in Ruanda etwas Entsetzliches anbahnte, denn er war von ruandischen Informanten darüber unterrichtet worden, dass mit der Hutu-Regierung verbündete Extremisten geheime Waffenlager angelegt hatten und Milizen zum Morden trainierten. Er ersuchte die Uno-Führung um die Erweiterung seines Mandats, das ihm erlaubt hätte, mit seinem kleinen Kontingent einzugreifen. Dem General wurde jedoch von Kofi Annans New Yorker Uno-Bürokratie jede Aktion, die über reine Selbstverteidigung hinausging, ausdrücklich untersagt.

Nicht zum ersten Mal werden neben dem Uno-Apparat auch die in der Uno tonangebenden Grossmächte USA, Grossbritannien und Frankreich ihrer Untätigkeit wegen hart kritisiert. Zum ersten Mal jedoch ist aus Dallaires Bericht zu erfahren, auf welch schäbige Weise diese Länder sich um wirkungsvolle Hilfeleistungen herumdrückten. Als die USA gebeten wurden, eines ihrer mit Störsendern ausgerüsteten Spezialflugzeuge zu entsenden, damit der zum Abschlachten der Tutsi-Bevölkerung hetzende Extremistensender «Radio des Mille-Collines» zum Schweigen gebracht werden könnte, wurde die Bitte von Washington unter Hinweis auf die zu hohen Kosten abgewiesen.

Washington liess sich zwar dazu herab, einige dringend benötigte gepanzerte Fahrzeuge zum Transport von Uno-Soldaten anzuliefern; nach dem Ausladen in Ruanda mussten die Leute Dal­laires jedoch feststellen, dass es sich dabei um seit dem Kalten Krieg in der Bundesrepublik eingemottete Schrottkisten handelte, die beim ersten afrikanischen Schlagloch zusammenbrachen. Ansonsten wollten die damals von Bill Clinton regierten USA um keinen Preis mehr in ein afrikanisches Schlamassel verwickelt werden, nachdem im Jahr zuvor ihre Intervention «Restore Hope» in Somalia kläglich gescheitert war.

Die Regierung Frankreichs kommt bei General Dallaire aber auch nicht besser weg. Als diese mit grosser Verspätung, aber umso mehr Fernsehpomp ihre «Operation Türkis» getaufte Ruanda-Aktion startete, blieb dem militärischen Kontingent nicht viel mehr übrig, als mit ihren Bulldozern Leichenhaufen in Massengräber zu schieben. Staunend stellte der kanadische General fest, dass sich unter den Offizieren der französischen Abteilung eine Reihe jener Militärs befanden, die eine Zeit zuvor die Kader der völkermordenden Hutu-Armee trainiert hatten. Der Bock war demnach zum Friedhofsgärtner gemacht worden.

Nichtsnutze in «Sodoma»

Romanautor Gil Courtemanche, der sich lange Zeit als Journalist in der Region aufgehalten hat, kann sich im Unterschied zum Uno-General erlauben, westliche Beteiligte ziemlich grausam zu porträtieren, einschliesslich Entwicklungshelfer, Aids-Bekämpfer und im Namen der Demokratie entsandte Militärs. Die Fallschirmjäger Frankreichs, Stolz der Nation, die lange vor Beginn des Genozids in Ruanda stationiert waren, erscheinen als picklige, ewig besoffene oder bekiffte Nichtsnutze, die, wenn sie überhaupt etwas taten, sich grölend in Kigalis Nuttenviertel mit dem sprechenden Namen «Sodoma» herumtrieben. Was die Einschätzung der Gesamtlage angeht, gibt es zwischen dem kanadischen Roman und dem kanadischen Generalsbericht keine gravierenden Divergenzen.

Die Romanhandlung setzt kurz vor dem Beginn der Massaker ein. Wie in vielen konventionellen Romanen treibt eine Liebesgeschichte die Aktion voran. Der Montrealer Fernsehjournalist Bernard Valcourt, der vertragsgemäss in Ruanda ein demokratisches Fernsehen aufbauen soll, hat sich in eine junge Ruanderin verliebt, die den hübschen Namen «Gentille» (die Nette) trägt. In einem Land, in dem wahlloser ungeschützter Geschlechtsverkehr gang und gäbe ist, lernt die junge Hotelangestellte Gentille in Bernard natürlich nicht ihren ersten Mann kennen, doch zum ers­ten Mal erfährt sie, die immer nur «genommen» wurde, was Lust heissen kann. Bernard befasst sich nicht nur mit ihrem Körper und dessen verborgenen Winkeln, sondern auch mit ihrem Geist. Er liest ihr Gedichte von Paul Eluard vor und spricht ausgiebig mit ihr, und dabei empfindet Gentille, so wie der Roman es beschreibt, eine ihr bisher völlig unbekannte Art von Erregung. Das muss die «Liebe» sein, denkt sie, wie sie in Filmen vorkommt. Sie verliebt sich ihrerseits in den weissen Kanadier.

Dem Autor Courtemanche ist es gelungen, eine aussergewöhnlich anrührende, doch nicht verlogene, Sex nicht aussparende, aber sich darin nicht erschöpfende zeitgenössische Liebesgeschichte zu erzählen, vor dem Hintergrund von Gewalt und Horror.

Belgischer Rassismus

Die hübsche Gentille porträtierend, entfaltet der unterrichtete Autor gleichzeitig ein farbiges ethnologisches Tab­leau Ruandas, das vernünftig (und nicht wie üblich irrational) zu erklären versucht, was es mit dem todbringenden Gegensatz von Hutus und Tutsis auf sich hat. Ihren Papieren nach ist Gentille eine Hutu, doch ihren eigenen Empfindungen und auch ihrer physischen Erscheinung nach – schlank, hochbeinig, schmalnasig – eine Tutsi.

Belgische Priester, ist zu erfahren, hatten zur Kolonialzeit die rassistische Theorie verbreitet, wonach die «nordischen», aus Äthiopien eingewanderten Tutsi die «edlere Rasse» seien, während die dunkelhäutigen, stämmigeren Hutus gerade zur Landarbeit taugten.

Es wurde demnach zum Ehrgeiz aufstrebender Hutu-Familien, ihren Nachkommen durch eine umsichtige Heiratspolitik schmalere Nasen, längere Beine und hellere Häute zu verschaffen. Die minoritären Tutsi wurden von der belgischen Kolonialmacht als herrschaftswürdige Schicht aufgebaut, die majoritären Hutus dagegen zu Handlangerdiensten verdammt. Dafür begannen die Hutus sich zu rächen, nachdem sie nach der Unabhängigkeit qua Mehrheit die Macht gewannen.

Gentille willigt ein, den um sie werbenden Kanadier Bernard zu heiraten und ein ruandisches Waisenmädchen zu adoptieren. Die Hochzeit findet am 8. April 1994 statt, zwei Tage nach dem Abschuss der Maschine des Hutu-Präsidenten Habaryamina, der die Massaker auslöst. Das Paar wird danach getrennt. Bernard, den es in die Demokratische Republik Kongo verschlagen hat, ist überzeugt, dass seine Frau Gentille nicht mehr lebt. Als er nach Kigali zurück­kehrt, findet er Gentille zwar lebend vor – doch grausam vergewaltigt, als «Tutsi-Hure», und mit durch Macheten abgeschnittenen Brüsten. Die derart Verstümmelte, eine lebende Tote, schickt ihren Mann zurück nach Kanada.

Heilungsprozesse

Nachzutragen bleibt, dass der kanadische Uno-General Dallaire nach seiner Rückkehr aus Ruanda unter dem Gewicht des dort Erlebten zusammenbrach, einen Suizidversuch beging und lange Zeit psychiatrisch versorgt werden musste. Die Niederschrift des Berichts «Ich gab dem Teufel die Hand» ist allem Anschein nach eine wichtige Etappe beim Heilungsprozess des verstörten braven Soldaten Roméo Dallaire gewesen.

Dem Romanautor Courtemanche ist ebenfalls Bemerkenswertes widerfahren. Als er, freiberuflicher Autor, seinen Roman niederschrieb, wollten keine Zeitung und kein Radio seine Artikel nehmen. Nun ist er berühmt geworden: In 21 Länder wurden die Lizenzen seines Romans verkauft, allein die Startauflage der deutschen Übersetzung beträgt
50 000 Exemplare. Nun rennen die gleichen Medienheinis dem Star mit ihren dienstgeilen TV-Teams hinterher. So ist das Leben.

Roméo Dallaire: Shake Hands with the Devil. Englisch. Random House, Kanada 2003. 592 Seiten. Fr. 21.90

Gil Courtemanche: A Sunday at the Pool in Kigali. Englisch. Canongate Books. Kanada 2004. 258 Seiten. Fr- 22-90