Vor dem Klimagipfel: Mit wehenden Fahnen in die Katastrophe

Nr. 43 –

Bevor in Glasgow am Sonntag die Verhandlungen starten, mussten die Uno-Mitgliedstaaten konkrete Klimaschutzmassnahmen vorlegen. Ihre Versprechen bleiben völlig unzureichend – aber nicht nur deshalb droht der Gipfel zur Farce zu werden.

Der Ausbau erneuerbarer Energien wird allein nicht reichen: Das weltgrösste Solarkraftwerk in der kalifornischen Mojave-Wüste. Foto: Alamy

«Im Minutentakt erscheinen neue Resultate. Es ist unglaublich schwierig, den Überblick zu behalten. Es gibt viele gleichzeitig stattfindende Treffen», sagt Dorothy Guerrero. Am Sonntag beginnt die Uno-Klimakonferenz, die «Conference of the Parties» (COP26), in Glasgow. Guerrero hilft mit, die «COP26 Coalition» zu koordinieren. Die Koalition ist eine lose Vereinigung von etlichen britischen NGOs, Gewerkschaften und Vereinen und informiert Bürger:innen, die keinen Zugang zur offiziellen COP haben. Sie wird täglich eine Zusammenfassung der Verhandlungen veröffentlichen und den «People’s Summit» abhalten: einen alternativen Gipfel, an dem jede und jeder online oder vor Ort teilnehmen kann.

«Wir vertreten einen bunten Haufen aus der Zivilgesellschaft: natürlich Klimaschutzorganisationen, aber auch Jugend- oder Frauenrechtsgruppen», sagt Guerrero. Sie selbst ist akkreditiert für den Klimagipfel und weiss um ihr Privileg: «Zugang zur COP gibt es nur für ausgewählte Organisationen. Und nicht alle Leute vermögen es, den jährlichen COPs hinterherzureisen und sich zu informieren», so Guerrero. Deshalb helfe ihre Koalition, interessierte Leute und Organisationen ausserhalb der offiziellen Delegationen zu vernetzen.

Ein unglaubwürdiger Gastgeber

Die Angst ist gross, dass am diesjährigen Treffen viel geredet, aber wenig beschlossen wird. Die Befürchtungen sind nicht unbegründet. Wie gut die einzelnen Länder im Klimaschutz sind, zeigt eine Rangliste des «Climate Change Performance Index». Auf den ersten drei Plätzen: Niemand. Die Staatengemeinschaft ist nicht auf Kurs, das Pariser Abkommen einzuhalten. Stand heute wird die Welt mit wehenden Fahnen an ihren Klimazielen vorbeisteuern.

Dorothy Guerrero hat deshalb klare Forderungen an die COP26: «Länder mit hohen Emissionen müssen drastisch reduzieren und netto null 2030 erreichen», sagt sie. Und auch die Umstellung auf erneuerbare Energieträger in armen Ländern müsse gut organisiert und Geld dafür verfügbar gemacht werden. «Es kann nicht sein, dass sich Industriestaaten mit ihren Netto-Null-Strategien gegenseitig stolz auf die Schulter klopfen, ohne sich dann zu griffigen Massnahmen zu verpflichten», so Guerrero.

Von einem «Wendepunkt für die Menschheit» sprach Boris Johnson, als britischer Premierminister Gastgeber der diesjährigen COP. Mit viel Pathos stellt er sich ins Rampenlicht. Tatsächlich steht Grossbritannien plötzlich auf dem ersten Platz der globalen Klimaversprechen, denn bis 2030 soll das Land 68 Prozent weniger Treibhausgase ausstossen als noch 1990. «Man muss schon sagen, dass die Briten wissenschaftlich gut unterwegs sind und die Ankündigung immerhin mal ein erster Schritt ist», sagt dazu Thomas Stocker, Professor für Klimawissenschaften an der Universität Bern. Umgekehrt sei die Infrastruktur in Grossbritannien aber rückständig; es gebe viele schlecht isolierte Häuser mit hauptsächlich fossilen Heizungen, sodass nur schon in diesem Bereich ein riesiger Handlungsbedarf bestehe. Auch hütet sich Johnson vor klaren Worten zu fossilen Brennstoffen. Kurz vor der COP berichtete «Sky News», dass in dem kürzlich mit Australien abgeschlossenen Handelsvertrag die Schlüsselforderungen an die australische Klimapolitik kurzerhand gestrichen wurden. Und peinlicherweise wurde vor kurzem bekannt, dass Grossbritannien neue Öl- und Gasvorkommen in der Nordsee erschliessen will.

Wichtige Versprechen

Aufsehenerregende Ankündigungen hat auch die EU gemacht. Sie will bis 2050 klimaneutral werden. Die Mitgliedstaaten befinden sich allerdings auf sehr unterschiedlichen Pfaden: Während sich Länder wie Polen oder Ungarn gegen einen Kohleausstieg stemmen, hat beispielsweise Deutschland immerhin eine klare Klimastrategie. Doch auch dort: Das meiste ist erst Ankündigung und hilft dem Klima als solche noch nicht weiter.

«Man darf diese Konferenzen aber nicht mit gleichgültigem Achselzucken quittieren», sagt Stocker: Ohne sie wäre das Pariser Klimaabkommen niemals zustande gekommen, und dieses sei ein Dokument von historischer Bedeutung. Heute scheinen die Pariser Hoffnungen aber in weiter Ferne. «Selbst für das Erreichen des Zwei-Grad-Ziels bräuchte es bald global negative Emissionen, man müsste also Treibhausgase aus der Atmosphäre entfernen», sagt der Klimawissenschaftler. Er hat über Jahre führend an den Berichten des Weltklimarats (IPCC) mitgewirkt. Diese sind die wissenschaftliche Basis für die Klimaverhandlungen. «Es gibt zwar Technologien, aber darauf zu vertrauen, dass diese global wirken, wäre fahrlässig», sagt Stocker. Umso wichtiger also, dass Treibhausgasemissionen so schnell wie möglich runtergefahren werden. «Wenn es eine echte Message im diesjährigen IPCC-Bericht gibt, dann ist es die Dringlichkeit, endlich etwas gegen die Klimaerwärmung zu tun. Immerhin haben sich alle beteiligten Staaten im Konsens auf diese Dringlichkeit geeinigt.»

Bloss reicht die Anerkennung des Problems nicht aus. Schon lange weiss man, dass allein die G20-Staaten einen riesigen Beitrag zur Klimalösung liefern könnten: Sie sind für etwa achtzig Prozent der globalen CO2-Emissionen verantwortlich. Weiterhin fördern sie Kohle, Öl und Erdgas mit gigantischen Subventionen.

Auch US-Präsident Joe Biden bekam zuletzt die Macht der amerikanischen Öl- und Gasindustrie direkt zu spüren: Sein neustes Ausgabenprogramm, das eine Abkehr von fossilen Energieträgern vorsah, wurde im US-Senat abgelehnt. Ausgerechnet die Stimme des Demokraten Joe Manchin, der von allen Senatsmitgliedern im letzten Wahlkampf am meisten Zuwendungen der Öl-, Kohle- und Gasindustrie erhalten haben soll, liess die Vorlage scheitern.

Täglich erscheinen Meldungen dazu, wie die Uno-Staaten ihre Klimaziele doch noch erreichen wollen. «Ob man jetzt 2,5, 3 oder sogar 3,5 Grad anpeilt: Die Emissionen müssen in jedem Fall auf null runter», sagt Thomas Stocker. Es gehe einzig ums Wann und ums Wie: «Für das 1,5-Grad-Ziel müssten wir 2030 auf netto null sein, für 2 Grad 2050, und für 2,5 Grad hätten wir noch ein bisschen mehr Zeit.» Bereits 2,5 Grad Erderhitzung würden aber bedeuten, dass man die Pariser Klimaziele aufgibt und noch verheerendere Klimaschäden in Kauf nimmt. «Es gäbe noch mehr Staaten, die sich nicht mehr anpassen könnten. Zum Beispiel Inselstaaten im Pazifik aufgrund des steigenden Meeresspiegels», sagt Stocker. Faktisch wäre es in seinen Augen bereits eine Errungenschaft, den Temperaturanstieg auf 2,5 Grad begrenzen zu können – «nur leider glaube ich nicht daran, so wie wir momentan unterwegs sind», so Stocker. Dies werde alle Menschen treffen, jene in den ärmsten Ländern aber am stärksten.

Ohne Geld keine Lösung

Weltweit besteht unter dem Begriff der Klimagerechtigkeit die Forderung, dass für die entstehenden Schäden bezahlt wird – und zwar von denjenigen Ländern, die am meisten zur Katastrophe beitragen. Auch dafür liefert der jüngste IPCC-Bericht viele Argumente. «Es ist das erste Mal, dass die Wissenschaft klipp und klar sagt, dass der menschengemachte Klimawandel bereits zu Verlusten und Schäden geführt hat», sagt Harjeet Singh. Er ist Chefberater des Climate Action Network (CAN), eines Zusammenschlusses Hunderter NGOs aus über 130 Ländern, die seit 26 Jahren an den COP-Verhandlungen teilnehmen. Als CAN-Delegierter vertritt Singh dort die Interessen armer Staaten – und steht dabei Ländern wie der Schweiz gegenüber, die mit allen Mitteln verhindern wollen, für Schäden haften zu müssen, die sie verursachen.

Harjeet Singh ist überzeugt, dass die zentrale Frage beim Kampf gegen die Klimaerhitzung die Finanzierung betrifft. «Für den Übergang von fossilen zu nachhaltigen Energieträgern in Entwicklungsländern brauchen wir einen ganz konkreten Fahr- und Finanzplan, wie die jeweiligen Meilensteine erreicht werden können», sagt Singh. Auch wenn heute günstige Alternativtechnologien wie Solarenergie zur Verfügung stünden, brauche es eine Startfinanzierungshilfe. Ohne die Pro-Kopf-Emissionen in aufstrebenden Wirtschaften zu drosseln, könne man gegen die Klimaerhitzung niemals ankommen – und wenn Länder in einer Versorgungskrise steckten oder zu wenig Geld für ihr Bildungs- oder ihr Gesundheitswesen hätten, werde man vergeblich auf deren Klimainvestitionen hoffen. «Ich glaube wirklich, dass Geld am Ende die Lösung des Problems sein kann», sagt Singh.

Nur: Wer wird sich an einem griffigen Finanzierungssystem beteiligen? Gemäss dem Pariser Abkommen sollten jährlich hundert Milliarden US-Dollar in den Klimaschutz ärmerer Länder fliessen. Derzeit gibt es gerade mal für gut die Hälfte des Betrags Zusagen. Auch die Schweiz hat bisher nie den ganzen von ihr erwarteten Betrag in den Topf eingezahlt.

Gewichtige Abwesenheiten

An der COP26 werden die Massnahmenpläne der Regierungen verglichen. Davon erhofft sich Thomas Stocker durchaus einen positiven Effekt: «Dies kann den Länderehrgeiz erhöhen und auch die Chancen des Klimaschutzes vermitteln.» Bloss dürften wichtige Akteure gar nicht erst nach Glasgow reisen: Stand heute werden etwa Chinas und Russlands Staatsoberhäupter, Xi Jinping und Wladimir Putin, nicht an den Verhandlungen teilnehmen. Immerhin hat China, das Land mit den meisten Kohlekraftwerken der Welt, vor kurzem angekündigt, die Kohleförderung im Ausland stoppen zu wollen. Und genau wie China haben zudem Indien, Russland, Indonesien und die Ukraine versprochen, bis 2060 klimaneutral zu werden. Das ist ein kleiner Schritt in die richtige Richtung. Die Staatschefs könnten sich aber weniger leicht vor klaren Ansagen drücken, wenn sie den Gipfel in Glasgow persönlich besuchen würden.

Nach der Ablehnung des CO2-Gesetzes durch die Stimmbevölkerung wird auch die Schweiz in Glasgow schlecht dastehen. «Wir sind eines der reichsten Länder und stehen ganz oben auf dem Innovationsindex. Und wir sagen einfach, Klimaschutz interessiert uns nicht», sagt Thomas Stocker. «Dies ist wirklich eine globale Peinlichkeit.»

Es ist nicht die einzige. Wie der Bundesrat im Vorfeld per Mediencommuniqué erklärte, legt die Schweizer Delegation ihren Hauptfokus am Klimagipfel auf die Ausarbeitung internationaler Kompensationsmechanismen. Es mutet wie ein schlechter Witz an, wenn sich das Land damit brüstet, zuletzt einen internationalen Konsens gegen eine «doppelte Anrechnung» von Klimainvestitionen (im Ausgangs- und Zielland) erwirkt zu haben. Denn auch die einmalige Anrechnung von Klimaleistungen im Ausland fördert eben nicht den Ausstieg aus fossilen Energien, sondern stellt einen simplen Ablasshandel dar. Einmal mehr geht die Schweiz ihren klassischen Weg: Probleme werden ausgelagert, und im Inland gehts weiter wie bis anhin.

Genau diesen Punkt kritisieren sowohl das CAN als auch die COP26 Coalition: «Wir fordern, dass man sich überhaupt keine Emissionen mehr im Ausland anrechnen lassen kann», sagt Dorothy Guerrero. Und natürlich schon gar nicht doppelt. Auch sollten keine Klimadarlehen mit hoher Zinslast vergeben werden, sondern bedingungslose Finanzierungshilfen für den Klimaschutz. «Ob solche Gelder an der COP26 gesprochen werden, bestimmt, ob der Gipfel als Erfolg oder als internationales Versagen zu werten ist», sagt Harjeet Singh.

Als stünde die COP26 nicht schon auf genügend wackligen Beinen, hat der britische Nachrichtensender BBC kürzlich mit einer Veröffentlichung für Furore gesorgt: Sie zeigte auf, dass vor der Publikation des neusten IPCC-Klimaberichts 32 000 Beanstandungen durch Regierungen an die Autor:innenschaft eingegangen waren. Das überrascht nicht, seit jeher versuchen Regierungen weltweit, jene Schlussfolgerungen des Berichts zu beeinflussen, die ihre jeweilige Wirtschaft direkt betreffen. So haben etwa Saudi-Arabien, Japan und Australien vom Weltklimarat gefordert, man möge doch den Ausstieg aus Öl, Gas und Kohle nicht als dermassen dringend darstellen. Und die Schweiz hat jene Klausel kritisiert, die fordert, dass Industrieländer mehr Geld für den Klimaschutz an finanzschwache Länder zahlen müssen.

Die von der BBC geschilderte Anmerkungsflut ist aber nicht das Hauptproblem. Auch wenn die beantragten Verwässerungen der dringlichen Kernaussagen inakzeptabel sind, können sie den wissenschaftlichen Gehalt der IPCC-Publikation zum Glück nicht umstossen. Viel schlimmer ist, dass sich die meisten Länder am Ende ganz einfach um die unmissverständlichen Erkenntnisse des Weltklimarats foutieren.

Schweizer Restbudget : Aufgebraucht bis 2022

Um die Klimaerhitzung auf höchstens 1,5 Grad zu beschränken, hat die Welt gemäss dem neusten IPCC-Klimabericht ab 2020 noch 400 Gigatonnen an CO2-Emissionen zur Verfügung. Gemäss Prognosen ist dieses Budget in weniger als acht Jahren aufgebraucht.

Im Vorfeld des Glasgower Klimagipfels haben sich die Hilfswerke Fastenopfer, Brot für alle sowie die kirchliche Organisation Oeku gefragt, welcher Anteil des knappen Budgets der Schweiz noch zusteht. Errechnet haben sie dies gemeinsam mit dem Institut für Nachhaltigkeits- und Demokratiepolitik (INDP) aus Luzern. Auf Basis des 1,5-Grad-Ziels wurde dabei berücksichtigt, dass die Schweiz im Vergleich zu ärmeren Ländern einen sehr hohen CO2-Fussabruck hat, gleichzeitig aber durch ihre hohe wirtschaftliche Leistungs- und Innovationsfähigkeit durchaus klimafreundliche Alternativen verfolgen könnte. Daraus ergab sich, dass die Schweiz ihr klimagerechtes CO2-Restbudget bereits 2022 aufgebraucht haben wird.

Die Erkenntnis wurde am Dienstagabend mit Wissenschaftler:innen und einer Vertreterin des Bundesamtes für Umwelt an einem Podiumsgespräch in Bern diskutiert. Wieder einmal drückte sich die offizielle Schweiz vor klaren Stellungnahmen zu ihrer Klimaverantwortung. Aber die anwesende IPCC-Mitautorin Sonia Seneviratne und auch der Ethiker Peter Kirchschläger unterstützten klar einen CO2-Budget-Ansatz, der den Ansatz der Klimagerechtigkeit miteinbezieht. Dieser müsse in der Schweizer Klimapolitik genauso zentral behandelt werden wie eine drastische Reduktion des CO2-Ausstosses.

Johanna Diener