Durch den Monat mit Oliver Rihs (Teil 1): «Wurde Stürm zu Recht von den Linken bewundert?»

Nr. 44 –

Oliver Rihs schickt in seinem neuen Film Joel Basman als Walter Stürm auf die Piste. Der Regisseur musste dabei auch seinen eigenen Blick auf den «Ausbrecherkönig» revidieren.

«Walter Stürm war nicht einfach ein Che Guevara, sondern vor allem ein Egozentriker»: Oliver Rihs vor dem provisorischen Polizeigefängnis auf der Zürcher Kasernenwiese.

WOZ: Oliver Rihs, bei Walter Stürms legendärem Ausbruch vor Ostern 1981 waren Sie neun Jahre alt. War der «Ausbrecherkönig» ein Held Ihrer Kindheit?
Oliver Rihs: Nicht unbedingt meiner Kindheit, aber später in meiner Jugend dann schon, als ich mit Freunden eine Punkband gründete und anfing, mein eigenes Halbstarkenleben aufzubereiten. Stürm war uns damals natürlich ein Begriff, und wir haben ihn ziemlich heroisiert – ohne allerdings viel über ihn zu wissen. Das waren nur Bruchstücke, die uns angezogen haben: Das gewisse anarchische und kriminelle Element, das fanden wir toll. Aber ich war keiner von denen, die vor dem Gefängnis für ihn demonstrierten oder Musik machten.

Ihr Film, «Bis wir tot sind oder frei», beginnt 1980 mitten in den Zürcher Unruhen, wobei ausgerechnet Stürm von einer Demonstrantin angepöbelt wird, weil er nach einem Ausbruch noch als Polizist verkleidet ist. Das ist nicht verbürgt, oder?
Nein, das ist nicht so passiert. Aber wir wollten damit gleich zu Beginn zeigen, wie Stürms Leben mit dem politischen Widerstand jener Zeit verschränkt war – und auch schon mal die Groteske andeuten, die Stürms Verbindung zum ganzen linksaktivistischen Zirkel in meinen Augen hergibt.

Der kriminelle Industriellensohn Stürm wurde in den achtziger Jahren gerade von Linken als Rebell bewundert. Zu Recht?
Ich habe beim Drehbuch eng mit Stürms Biograf Reto Kohler zusammengearbeitet, der sich für sein Buch acht Jahre lang intensiv mit Stürm und all seinen Delikten auseinandergesetzt hatte. Er hat mir schon relativ früh den Schleier von den Augen genommen und mir klar gemacht, dass Stürm nicht einfach ein Che Guevara war, sondern vor allem ein Egozentriker, der mit seiner kriminellen Energie auch ein Stück weit seinen übermächtigen Vater bestrafen wollte. Die Linken hat er eher für seine Absichten instrumentalisiert. Sicher hatte er damals in der linken Szene Freunde, aber ich bin überzeugt, er war gar nicht so politisch.

Der Anwalt Bernard Rambert sagte einmal in der WOZ, dass Stürm sich im Gefängnis zwar als politisches Subjekt verhalten habe, in seinem Kampf gegen die Isolationshaft – doch draussen habe er sich nicht mehr wirklich für Politik interessiert.
Beni Rambert hat ein relativ radikales Bild von Walter Stürm. Er hatte ja lange mit ihm zu tun und hat ihn dabei auch wirklich gut kennengelernt. Sehr viele Leute, die länger mit Stürm zu tun hatten, finden letztlich, dass er sie über den Tisch gezogen und sehr clever instrumentalisiert hat. Stürm hatte viel Charme und war gerissen – und er liebte das Rampenlicht. Er hat zwar für bessere Haftbedingungen gekämpft, aber es ging ihm dabei um sein eigenes Wohl, nicht um eine Veränderung im Staatsapparat.

Es ging ihm um sich und sein Birchermüesli.
Genau. Aber das ist nicht etwa ein Drehbuchwitz, auch wenn wir es im Film so ausspielen. Das war für Stürm wirklich ein grosses Thema. Er sagt: Das Birchermüesli im Gefängnis sei deshalb so verschissen, weil man den Insassen damit die Würde nehmen wolle.

Auch die WOZ hat sich ja seinerzeit wiederholt für Stürm starkgemacht. Schon etwas schade, dass das im Film überhaupt nicht vorkommt.
Ja, das stimmt eigentlich. Wir mussten natürlich auswählen, mit welchen biografischen Elementen aus jener Zeit wir wirklich arbeiten wollen. Haben wir nicht irgendwo mal einen WOZ-Artikel gezeigt? Wenn nicht, würde mich das wundern – aber ich weiss es nicht mehr genau.

Was haben Sie im Film für ein Verhältnis zwischen Wahrheit und Legende angestrebt?
Was Stürm angeht, haben wir schon versucht, so weit wie möglich und historisch getreu biografisches Material einzubringen – seine Aktionen natürlich, die Ein- und Ausbrüche, aber auch Äusserungen von ihm. Wir haben auch versucht, seinen Charakter so zu zeichnen, wie ihn Reto Kohler recherchiert hat. Gleichzeitig geht es natürlich darum, ihn nicht einfach biografisch zu begleiten, sondern über eine starke Geschichte von dieser Figur zu erzählen. Der Film ist kein Biopic. Es ist eher eine atemberaubende philosophische Lovestory in einem ungewöhnlichen Umfeld.

Bis auf Stürm und seine Anwältin Barbara Hug gibt es im Film sonst keine Figur, die den Namen einer real existierenden Person trägt. Mussten Sie noch weitere Rücksichten nehmen?
Es gibt ja dieses eine Bild im Film, wo man kurz die Fabrik von Stürms Vater sieht. Dort haben wir das Gewerbe geändert, um keine Klage zu riskieren. Wir waren da schon relativ vorsichtig. Mit Stürms Sohn und seinen Geschwistern hatten wir aber keinen Kontakt. Wir hatten eher mit Leuten zu tun, die immer noch einen Groll auf ihn hegen und sagen: Dieser Schafseckel hat mich verseckelt oder hat mir mein Auto geklaut. Oder eben Beni Rambert, den Stürm auch nach Strich und Faden beschissen hat, als er bei Ramberts Tante in Genf heimlich Waffen versteckte.

Oliver Rihs (49) lebt seit zwanzig Jahren in Berlin. Sein Stürm-Film «Bis wir tot sind oder frei» kommt am 25. November 2021 ins Kino.