Kino-Film «Petite Maman»: Mit Mama in der Zeitkapsel

Nr. 44 –

Die Regisseurin Céline Sciamma ist die Antithese zum französischen Mainstreamkino: Statt arrivierte Pärchen in Ehekrisen oder Wirtschaftsanwälte mit minderjährigen Geliebten wie ihre Kollegen stellt sie Frauenfiguren ins Zentrum, deren Konflikte ohne Männer auskommen. Letztere sind bei Sciamma Nebenfiguren, die meist nur als Platzhalter fürs Patriarchat auftreten – wie zuletzt in ihrem grandiosen lesbischen Liebesfilm «Portrait de la jeune fille en feu».

Nach jenen expressiven Bildern zweier Liebender in rauer Küstenlandschaft legt die 42-Jährige mit «Petite Maman» nun eine filmische Kehrtwende hin: Statt eindrücklicher Landschaftsaufnahmen dominieren hier ein herbstlicher Wald und die Innenansichten eines ausgeräumten Hauses. Sciammas Heldin ist diesmal eine Achtjährige: Nach dem Tod ihrer Grossmutter begleitet Nelly ihre Mutter in deren Elternhaus. Während Vater und Mutter das Haus ausräumen, trifft Nelly im umliegenden Wald auf ein gleichaltriges Mädchen, das ihr zum Verwechseln ähnlich sieht. Es trägt den Namen ihrer Mutter: Marion. Die beiden erzählen sich schliesslich aus ihren vorangegangenen und zukünftigen Leben, und man begreift, dass Nelly hier ihrer eigenen Mutter im Körper eines kleinen Mädchens begegnet.

Die Zeitschleife, in die uns Regisseurin Sciamma in «Petite Maman» schickt, ist nicht verortbar: Die Autos sind aus der Gegenwart, die Mode aus den fünfziger Jahren, und der Soundtrack mit dem sprechenden Titel «La Musique du futur», für den Sciamma den Text schrieb, klingt wie aus den Achtzigern. In unprätentiösen Bildern und gerade einmal 72 Minuten wirft sie wiederum jene Fragen nach weiblicher Verbundenheit auf, die ihr Werk durchziehen. Doch diesmal projiziert sie diese auf drei Frauengenerationen. Nellys Vater ist dafür nebensächlich, der ist sowieso mit seinem eigenen Vater beschäftigt. Der Film macht so den Blick auf eine zeitlose Utopie unter Frauen frei, die Sciamma geträumt hatte, bevor sie sie auf die Leinwand brachte. Vielleicht wirkt sie gerade darum umso realer.

Petite Maman. Regie und Drehbuch: Céline Sciamma. Frankreich 2021