Die Situation in der Schweiz: Unorganisiert in der Krise

Nr. 45 –

Schlechte Arbeitsbedingungen, Spardruck, Personalmangel: Im Schweizer Gesundheitswesen läuft vieles falsch. Zugleich wird der Protest der Angestellten durch die Schwächen der Gewerkschaften gebremst.

Die Euphorie war schon bald verflogen. Im Juni hatte das Personal des Lausanner Universitätsspitals einen Tag lang gestreikt. Konkrete Folgen hatte der Protest allerdings nicht. Zwar bot die Waadtländer Gesundheitsdirektorin Rebecca Ruiz (SP) sogleich Verhandlungen an. Doch verhandeln wollte sie dann weder über die Löhne noch über die schlechten Arbeitsbedingungen und den massiven Personalmangel. Gestritten wird seither einzig darüber, ob künftig Schwangerschaftsvertretungen angestellt werden dürfen.

Wäre das möglich, würde sich die Situation im Spital zwar verbessern, sagt David Gygax, der für die Gewerkschaft VPOD am Verhandlungstisch sitzt. Aber er verhehlt nicht, dass die grossen und drängendsten Probleme damit ungelöst blieben. So häufen sich aufgrund der schlechten Arbeitsbedingungen wie in den meisten Schweizer Spitälern und Heimen die Kündigungen und Krankschreibungen. «Niemand weiss, wie das Spital so in einer vierten Covid-Welle funktionieren soll.»

Heftige Verteilkämpfe

Dass die für Schweizer Verhältnisse mutigen Lausanner Spitalangestellten im besten Fall einen Kleinerfolg verzeichnen können, liegt für Gygax einerseits am liberalisierten Spitalmarkt, der zu einem problematischen Kostendruck führt. Andererseits sei es unbestritten, dass die Gewerkschaften mit einer breiteren Mitgliederbasis eine bessere Verhandlungsposition hätten, als dies derzeit der Fall ist. Aktuell sind nicht einmal zehn Prozent des Gesundheitspersonals gewerkschaftlich organisiert. «Das reicht bei weitem nicht», sagt Véronique Polito, die bei der Gewerkschaft Unia als Vizepräsidentin für den Dienstleistungssektor zuständig ist. «Erst ab dreissig Prozent kann man von einem guten Organisationsgrad sprechen.»

Für ihren Kollegen Marco Geu von der in den katholischen Kantonen starken Gewerkschaft Syna sind sogar dreissig Prozent immer noch an der unteren Grenze: «Wir müssen in der Lage sein, ganze Abteilungen lahmzulegen.» Dies sei gerade auch nach einem allfälligen Ja zur Pflegeinitiative am 28. November wichtig, für die sich Gewerkschaften und Berufsverband gemeinsam engagieren. Um die Initiative umzusetzen, seien harte Verhandlungen mit den Spitälern und den Kantonen notwendig. «Und wenn die Spitäler dann tatsächlich in die Pflege investieren müssen, werden sie einfach andernorts Einsparungen machen», sagt Geu. Er rechnet deshalb mit heftigen Verteilkämpfen zwischen den Berufsgruppen. «Dabei sollten alle gemeinsam gegen den Kostendruck und das dafür ursächliche liberalisierte Spitalsystem kämpfen.» Doch dafür sei eine gute gewerkschaftliche Organisierung essenziell.

Historische Versäumnisse

Dass die Gewerkschaften nicht besonders gut aufgestellt sind, hat auch historische Gründe. Denn während andere Berufsgruppen Gewerkschaften oder zumindest kämpferische Berufsverbände aufbauten, konzentrierte sich der 1910 gegründete Schweizerische Krankenpflegebund (heute SBK) auf die Berufsbildung und das Vermitteln von Stellen, wie eine Studie des Thinktanks Denknetz aus dem Jahr 2013 zeigt. Bestrebungen, den Berufsverband gewerkschaftlicher auszurichten, scheiterten kurz nach der Gründung am Widerstand des nationalen Vorstands.

Der brave SBK ist bis heute die führende Vertretung des Pflegepersonals, der mit Abstand grössten Berufsgruppe in Spitälern und Heimen. Daneben blieb für die Gewerkschaften in einem kirchlich geprägten Milieu nur wenig Raum, der in erster Linie durch den VPOD besetzt wurde. Ab den sechziger Jahren wuchs der gesamte Dienstleistungssektor stark an und stellte die Gewerkschaften vor Herausforderungen. Die Organisierung der neuen Branchen gelang nur bedingt. So zählte der Gewerkschaftsbund, zu dem auch der VPOD und die Unia gehören, 2011 nur acht Prozent der Angestellten im Dienstleistungsbereich zu seinen Mitgliedern. Im schwer zu organisierenden Gesundheitswesen waren es gar nur drei Prozent.

Zu diesem Zeitpunkt war die Spitalliberalisierung bereits beschlossene Sache. «Der dadurch verursachte Wandel vom Service public hin zum knallharten Markt überforderte das Personal – aber auch die Gewerkschaften und die Berufsverbände», sagt Marco Geu von der Syna. Für Véronique Polito stand das Gesundheitswesen lange Zeit zu wenig im gewerkschaftlichen Fokus. Die Unia habe deshalb 2010 bewusst entschieden, sich in diesem neu zu engagieren – und organisiert seither das Personal von Pflegeheimen und Spitexbetrieben mit.

Das Engagement kann durchaus als Kritik am VPOD verstanden werden. In der Gewerkschaftsszene ist es gleichzeitig ein offenes Geheimnis, dass die Konkurrenzierung durch die Unia beim VPOD bis heute für Unmut sorgt. Polito von der Unia versteht dies nicht: «Bei einem Organisationsgrad von unter zehn Prozent kann man nicht von Konkurrenz sprechen.» Es brauche alle, um etwas bewirken zu können. Gemeinsame Ziele hindern Unia und VPOD aber nicht daran, sich bei Verhandlungen mit den Arbeitgebern gegenseitig zu bekriegen.

Düstere Aussichten

Elvira Wiegers vom VPOD will mit der WOZ lieber über die eigenen Erfolge sprechen. So habe der VPOD im Gesundheitsbereich in den letzten zehn Jahren einen Mitgliederzuwachs von gut drei Prozent erzielt – obwohl die Gewerkschaften sonst schrumpfen. Zuletzt fuhr der VPOD mit einem Streikbus von Spital zu Spital, um die Angestellten zu organisieren. Die Coronakrise habe dem Personal die bestehenden Probleme deutlich vor Augen geführt, sagt Wiegers. Sie ist überzeugt, dass das Gesundheitspersonal insgesamt gut aufgestellt ist: «Die Bereitschaft zu Protesten ist massiv gestiegen.»

Pflegefachmann Willy Honegger, der sich beim Verein «Pflegedurchbruch» für eine «würdige Pflege» engagiert, ist da skeptischer. «Die Gewerkschaften sind weiterhin kaum präsent.» Und der Berufsverband SBK habe zwar einen hohen Organisationsgrad, agiere aber bis heute sehr defensiv. Doch auch das Gesundheitspersonal sei Teil des Problems: «Es ist ein ziemlich unpolitischer Haufen.» Wer sich berufspolitisch engagiere, bekomme von den Arbeitskolleg:innen zwar Zuspruch, sagt Honegger, «aber mitmachen will dann doch fast niemand».

Jenny, eine Pflegefachfrau in Ausbildung, hat dafür Verständnis: Viele der vorwiegend weiblichen Angestellten leisteten auch privat Care- und Erziehungsarbeit. In Kombination mit dem strengen Berufsalltag führe dies zu einer starken Doppelbelastung, die ein berufspolitisches Engagement erschwere. Auch arbeiteten in Gesundheitsberufen viele Personen, die vor allem anderen helfen wollten. Ein gewerkschaftliches Engagement stehe für sie im Widerspruch zu diesem Selbstverständnis. Sie selbst habe die Präsenz von Gewerkschaften aber vermisst, sagt Jenny, die ihren Nachnamen aus Angst vor negativen Auswirkungen auf ihre Ausbildung nicht in der Zeitung lesen will. Zusammen mit Berufskolleg:innen hat sie deshalb im Mai bei der Basisgewerkschaft FAU eine Gesundheitssektion gegründet. Die Absicht des noch kleinen Grüppchens: die Branche von unten organisieren.

Auch aus gesellschaftlicher Sicht ist es von zentraler Bedeutung, dass die Gewerkschaften bald Erfolge erzielen. Denn nur durch Verbesserungen bei den Arbeitsbedingungen kann verhindert werden, dass Gesundheitsangestellte in andere Berufe abwandern. «Wenn uns dies nicht gelingt, haben wir in zehn Jahren eine viel schlimmere Situation in den Spitälern als nun in der Coronakrise», sagt Véronique Polito von der Unia. «Wir werden dann grundsätzlich nicht mehr in der Lage sein, alle Menschen zu betreuen und zu pflegen.»