Wichtig zu wissen: Die SVP fährt die Ernte ein
Ruedi Widmer über das Geschrei vor dem 28. November
Wäre die Schweiz in diesem November 2021 ein Atomkraftwerk, wäre sie schon lange automatisch schnellabgeschaltet worden. Die Brennstäbe des Typs «Facebook» der US-Problemfirma Meta erhitzen sich auf über 10 000 Grad, auch das sowjetische Internet-Tschernobyl des Typs «Telegram» stösst internetaktive Wolken über dem ganzen Land aus.
Ich bin seit zwölf Jahren auf Facebook, habe aber noch nie eine derartige Gehässigkeit erlebt. Die Menschen verletzen sich gegenseitig, entfreunden sich, springen sich mit allen verfügbaren Bytes an die Gurgel. Bislang unpolitische, aber kulturaffine Leute solidarisieren sich plötzlich trotzig mit den Trychlern, verlieren deshalb viele irritierte Facebook-Freund:innen, werden von Gleichgesinnten unter die Fittiche genommen, und die Care-Teams der Skeptiker:innen stossen dazu und bieten den Heimatlosen die ersten Linklisten ins Querdenkerreich an: «Lies!» Wieder andere, denen ich ein Mü näherstehe, würden am liebsten gleich aus allen verfügbaren Spritzen losboostern. Die ewige Impfung ist für sie der Gral, der Weg zur Erlangung der heiligen Rationalität.
Wo die extremsten Rationalist:innen und die duseligsten Gefühlsduseligen aufeinandertreffen, sind die Nationalist:innen nicht weit. Die köcheln das Gezeter weiter hoch, indem sie sich mit Millionenspenden skrupelloser Oligarchen aus dem Kanton Schwyz bei den Impfsensiblen einschleimen und das Land mit «Diskriminierung von Menschen NEIN»-Plakaten überziehen. Notabene Oligarchen, die SVP leben, eine Partei, die sich noch in keinem bekannten Fall in ihrer Geschichte für Schwächere engagiert hat.
Kurzfristig schadet das der Partei, denn das Hallo um das Covid-19-Gesetz stösst jene nicht wenigen SVPler:innen ab, die mit beiden Beinen auf dem Boden stehen. Langfristig aber nicht: Es bindet esoterische oder gar linkstrotzistische (nicht: trotzkistische) Kreise an die Partei, die ihr vielleicht bald so treu ergeben sind, dass sie bei der nächsten Europaabstimmung gegen den Bundesrat stimmen werden. Und die am 28. November kurzfristig verlorenen SVPler:innen werden dann wieder dabei sein. Strategisch ein cleverer Schachzug von Martullo/Aeschi/Köppel/Matter, den zuverlässigen Nummer-eins-Hetzparadenstürmer:innen.
Hätte die politische Rechte im Frühjahr 2020 den gegenteiligen Weg eingeschlagen (und kurzfristig hatten das sowohl AfD als auch SVP vor) und ihre Regierungen als untätig gegenüber dem gefährlichen Coronavirus gebrandmarkt (remember Martullo mit Maske im Parlament und Aeschi, der die Session abbrechen wollte), würden sich die Rechten heute in Zivilschutzräume zurückziehen, gingen nur noch mit Gasmasken auf die Strasse, demonstrierten mit dem Spitalpersonal gegen den Bundesrat, umschwärmten die Angehörigen der Covid-Kranken als neue Wähler:innengruppe und schrieben sich an der ETH statt bei Youtube ein.
Eine Gegenseite hätte es vermutlich gar nicht gegeben, und die «Spaltung der Gesellschaft» wäre ausgeblieben, denn die naturgemäss fürsorgerische Linke wäre schliesslich derselben Meinung gewesen, hätte aber nicht in den rechten Extremist:innenchor eingestimmt, und die SP als Partei des untätigen Gesundheitsministers hätte sich herausgewunden. Langfristig wäre ein solches Szenario für die Linke fatal herausgekommen.
Es sind zum Glück die Trychler, die den Covid-19-Gesetz-Gegner:innen den sicheren Sieg vermasseln werden. Diese aber werden sagen, es seien die Stimmenzählenden gewesen. Es ist nicht auszuschliessen, dass noch nachgetrychelt werden wird.
Off topic: Die Zürcher Kunsthauserweiterung eignet sich nach dem angedrohten Auszug der Sammlung Bührle schon rein architektonisch als Werkhalle zum Zusammenbau von Flabkanonen. Oder als Impfzentrum für die Coronawellen fünf bis siebzehn.
Ruedi Widmer ist Cartoonist in Winterthur.