Kolonialisierung: Wissen, das nichts mehr wert sein soll

Nr. 47 –

Unterwegs mit dem Kassettenrekorder: In «Apenas el sol» zeigt die paraguayanische Regisseurin Arami Ullón die erschütternden Folgen der Kolonialisierung Lateinamerikas.

Wie bewahrt man das Kulturgut einer Gemeinschaft vor dem völligen Verschwinden? Ein Ayoreo mit einer von Mateo Sobode ­Chiquenos Kassetten. Still: Cineworks Filmproduktion

Am Ende lodert der Wald lichterloh, schamanischer Gesang mischt sich unter das Knistern des Feuers. Die Flammen verschlingen die Bäume, Rauch legt sich über das Bild, nur die Sonne dringt noch knapp durch. «Apenas el sol» (Nur die Sonne) heisst dieser unendlich traurige Film von Arami Ullón über die Ayoreos in Paraguay.

Diese lebten bis Mitte des 20. Jahrhunderts im Regenwald in der Grenzregion von Paraguay und Bolivien, ehe sie durch die Abholzung für die Sojaindustrie ihres Lebensraums beraubt wurden. Zudem begannen die eingewanderten Mennoniten in den vierziger Jahren aggressiv zu missionieren. Die meisten Ayoreos wurden gewaltsam aus dem Wald vertrieben, getötet oder gefangen genommen und zum Christentum bekehrt. Heute wohnen die Überlebenden und ihre Nachkommen in staubigen, tristen Dörfern in Paraguay oder Bolivien, es fehlt an Wasser, Arbeit gibt es keine. «Die weissen Missionare vertrieben uns aus dem Paradies, und ich frage mich, welche Sünden wir begangen haben», sagt Mateo Sobode Chiqueno, der durch den gesamten Film führt.

Die letzte Generation

Was die paraguayanische Regisseurin Arami Ullón, die seit mehreren Jahren in Basel lebt, in «Apenas el sol» macht, ist Oral History, die unter die Haut geht. Ausgerüstet mit einem alten Kassettenrekorder, besucht ihr Protagonist ältere Menschen von verschiedenen Communitys der Ayoreos, um sie über ihr Leben zu befragen. Sobode Chiqueno ist selbst Ayoreo. Er lebte als Kind im Wald und verlor seine Eltern durch die Invasion der «Weissen», wie die Missionare im Film stets genannt werden. Bedächtig befragt er seinesgleichen, lässt sie in seinen Kassettenrekorder singen, rezitieren, erzählen, aber auch schweigen – und schildert selbst sein Leben. Die zurückhaltende und doch ganz nah an den Menschen geführte Kamera von Gabriel Lobos («Blue My Mind») fährt über die vom Leben gezeichneten Gesichter und ruht auf den verrunzelten Händen. Hände, die sticken, Hände, die im Schoss ruhen – und immer wieder Sobode Chiquenos Hände, die den Rekorder an- oder ausschalten, alte Kassetten entstauben und anschreiben oder das Band zu entwirren versuchen.

Wie lange werden seine Aufnahmen halten? 1979 habe er den Kassettenrekorder gekauft, erzählt er, damals schon dachte er an die Zukunft der Ayoreos. Denn seine Generation ist die letzte, die das Leben im Wald sowie die alten Bräuche und Rituale noch kennt. Wenn sie stirbt, wird das Kulturgut einer ganzen Gemeinschaft verschwinden. Ob das Leben hier oder im Wald besser sei, ob sie sich die Vergangenheit zurückwünschten oder noch schamanische Rituale machten, will er in den Gesprächen wissen. Und die Antworten zeigen das Dilemma der Überlebenden: Eigentlich sei es im Wald besser gewesen, aber ihre Enkel lebten halt hier, sagt ein Mann. Und eine Frau meint, aus ihr wäre eine gute Schamanin geworden, aber weil ihre Tochter Christin sei und sie selbst nun auch an Gott glaube, dürfe sie ihre Bräuche nicht mehr ausüben. Ein Dritter sagt: «Wir denken nicht mehr darüber nach, weil wir an Gott glauben.» Es sind diese leisen Worte der resignierten Alten, die die Brutalität der Kolonialisierung und deren fatale Folgen schonungslos offenlegen.

65 Dollar für zwei Monate

«Apenas el sol» erzählt aber nicht nur von den unfassbaren Gräueltaten der Weissen und von der zerstörerischen Macht von Religion und Kapitalismus, sondern auch davon, wie Wissen unterschiedlich gewertet wird. Alle zwei Monate kommen Staatsbeamte in die Dörfer und verteilen 65 Dollar pro Haushalt. Und weil viele Ayoreos Analphabet:innen sind, setzen sie statt einer Unterschrift ihren Daumenabdruck aufs Dokument. Die Ayoreos erscheinen im Wertesystem der Weissen als faul und ungebildet: Nicht nur sind sie arbeitslos, sie können auch nicht lesen und schreiben. Gleichzeitig gilt ihr Wissen, das über Generationen weitergegeben wurde, als wertlos.

Umso wichtiger sind deshalb Sobode Chiquenos Kassetten wie auch Ullóns Film. Dieser besticht durch die Nähe zu den Protagonist:innen, ohne sie je auszustellen. Man spürt, dass Ullón über mehrere Jahre immer wieder nach Paraguay gereist ist – zuerst ohne Kamera – und so ein Vertrauensverhältnis aufbauen konnte. Die Nähe ergibt sich aber auch aus dem dramaturgischen Kniff mit Sobode Chiqueno: Da er als Ayoreo und selbst Betroffener durch den Film führt, finden die Gespräche auf Augenhöhe statt. Er nimmt im Grunde die Rolle ein, die Ullón in ihrem letzten Film selbst hatte: In «El tiempo nublado» (2014) setzte sie sich mit der Krankheit ihrer Mutter auseinander. Dabei war sie ihrer Mutter ganz nah, stellte diese aber auch in den persönlichsten Gesprächen nie aus.

«Apenas el sol», der von Paraguay ins Oscar-Rennen geschickt wird, sollte nicht nur im Kino, sondern auch im Schulunterricht gezeigt werden, weil er leise und unaufgeregt vor Augen führt, welche katastrophalen Folgen die «Entdeckung» Amerikas bis heute hat. Bevor der Wald brennt, schaut Mateo Sobode Chiqueno auf einen grünen Regenwald und sagt: «Wir Ayoreo in Gefangenschaft sind wie ein gefällter Baum, der vertrocknet und langsam stirbt.»

Apenas el sol. Regie: Arami Ullón. Schweiz/Paraguay 2021