Wahl in Chile: Sozialreform oder Barbarei

Nr. 47 –

Das Ergebnis der Wahl vom vergangenen Sonntag hatte sich schon in den Tagen zuvor abgezeichnet. Es war zu erwarten, dass die Koalition aus sozialistischer und christdemokratischer Partei, die die Politik Chiles seit dem Ende der Militärdiktatur unter Augusto Pinochet 1990 dominiert hatte, nahezu bedeutungslos werden würde. Ihre Kandidatin Yasna Provoste kam auf nicht einmal 12 Prozent. Der traditionellen Rechtskoalition des noch regierenden Präsidenten Sebastián Piñera ist es ähnlich ergangen. Viele ihrer führenden Köpfe sind zuletzt öffentlich zum ultrarechten Kandidaten José Antonio Kast übergelaufen, während ihr eigener Kandidat Sebastián Sichel nur knapp 13 Prozent der Stimmen erreichte. Kast, ein 55-jähriger Rechtskatholik mit neun Kindern, Mitglied der noch jungen Republikanischen Partei, erzielte mit 28 Prozent das beste Resultat. Er wird bei der Stichwahl am 19. Dezember auf Gabriel Boric treffen (siehe WOZ Nr. 45/2021 ). Der 35-jährige ehemalige Student:innenführer, Kandidat einer Linkskoalition aus der Kommunistischen Partei und einem Sammelsurium aus Kleinparteien und sozialen Bewegungen, erzielte mit 26 Prozent der Stimmen das zweitbeste Resultat.

Die Wochen bis zum zweiten Wahlgang könnten hässlich werden. Kast gab gleich nach der Veröffentlichung der ersten Ergebnisse den Ton vor: Wer Boric wähle, der stimme dafür, dass Chile eine wirtschaftliche Katastrophe wie Venezuela erlebe. Der Linkskandidat sei «eine Marionette der Kommunisten». An der Kriminalität im Land seien die Migranten aus Haiti und Venezuela schuld, und selbst der rechte Präsident Piñera habe «das Erbe Pinochets verraten». Kasts antikommunistischer und ausländerfeindlicher Diskurs wird von den fast durchweg rechten Massenmedien vervielfacht.

Provoste, die Kandidatin der Mittekoalition, rief kurz nach Kasts Rede indirekt dazu auf, für Boric zu stimmen: Sie werde ihre Stimme «nie und nimmer einem Faschisten geben». Der Rechtskandidat Sichel dagegen unterstützt Kast, weil er «nicht für den Kommunismus» stimme. Dabei gibt sich Boric eher gemässigt. Sein zotteliges Haar und den Hipsterbart hat er bereits auf ein gepflegtes Mass gestutzt, um die Mittelschicht nicht zu erschrecken. Er schlug bisher nicht zurück gegen Kast, stattdessen will er die Wähler:innen davon überzeugen, dass sein sozialreformerisches Programm ein gerechteres Chile schaffen wird. So werden die Chilen:innen am 19. Dezember zwar nicht vor der Alternative «Sozialismus oder Barbarei» (Rosa Luxemburg) stehen, sich aber immerhin zwischen Sozialreformen und Barbarei entscheiden müssen.