Linker Wahlsieg in Chile: Zeit für neue Experimente

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Für die Linke Lateinamerikas wurde der vergangene Sonntag zum Feiertag. Nach über fünfzig Jahren hat mit Gabriel Boric wieder ein bekennender Marxist die Präsidentschaftswahl in Chile gewonnen. Sein Sieg war deutlich, er bekam knapp 56 Prozent der Stimmen. Salvador Allende erreichte 1970 nur gut 36 Prozent. Damals jedoch gab es noch keine Stichwahl, der Kandidat mit den meisten Stimmen wurde Präsident. Das Mandat von Boric ist, so gesehen, sehr viel solider als das von Allende.

Boric war für eine Koalition aus dem Frente Amplio, einer Sammelbewegung überwiegend linker Kleinparteien, und der Kommunistischen Partei angetreten. Vor fünfzig Jahren hätte man eine solche Koalition «Unidad Popular» genannt, die «Volkseinheit». Heute heisst sie «Apruebo Dignidad», was man frei übersetzen kann mit «Wir stehen für Würde». Schon allein das zeigt, wie sich die Zeiten geändert haben. Allende stand damals, ein Jahrzehnt nach der kubanischen Revolution, für einen friedlichen und demokratischen Weg zum Sozialismus. Boric hat seinen Wähler:innen keinen Sozialismus versprochen, sondern einfach nur «Würde».

Allendes Weg zum Sozialismus wurde am 11. September 1973 durch einen Militärputsch brutal abgebrochen. Es folgten siebzehn Jahre unter der Knute von General Augusto Pinochet. Dessen Diktatur war zwar nicht die brutalste, die Lateinamerika in jenen Jahren erlebte, aber sie war perfekt. Pinochet diente neben seinen eigenen Interessen immer denen der wirtschaftlichen Elite. Er holte die sogenannten Chicago Boys und liess sie das Land zum ersten Experimentierfeld des Neoliberalismus machen – noch vor dem Grossbritannien unter Margaret Thatcher und den USA unter Ronald Reagan. In Chile wurden nicht nur die Renten, das Bildungs- und das Gesundheitswesen privatisiert, sondern selbst das Wasser von Flüssen. Männer wie der scheidende rechte Präsident Sebastián Piñera wurden dadurch zu Milliardären. Hingegen müssen sich Akademiker:innen aus der gehobenen Mittelschicht bis heute verschulden, wenn sie ihre Kinder studieren lassen wollen.

Boric hat zehn Jahre Erfahrung im Kampf gegen den Neoliberalismus. 2011 gehörte er zu den führenden Köpfen einer Student:innenbewegung, die zunächst nur Universitäten forderte, die nicht dem privaten Gewinnstreben dienen, sondern allen, auch den Kindern armer Familien. Schnell wurde in den Monaten der Massendemonstrationen das Wirtschaftssystem als Ganzes infrage gestellt. So war es auch bei der nächsten Welle von Student:innenprotesten in den Jahren 2015 und 2016 und bei den Unruhen zwischen Oktober 2019 und einer militärisch durchgesetzten Corona-Ausgangssperre im April 2020. Boric, seit 2014 Abgeordneter, begleitete diese Protestwellen vom Parlament aus mit Sympathie und war immer wieder auch selbst auf der Strasse.

Jetzt, als mit 35 Jahren jüngster Präsident der Geschichte Chiles, hat er die Möglichkeit, die Forderungen dieser Bewegungen Wirklichkeit werden zu lassen. Nicht mehr, aber auch nicht weniger hat er versprochen. Er will ein staatliches Rentensystem, das ein würdiges Altern ermöglicht, Bildung und Gesundheit für alle, gleiche Rechte für Männer, Frauen und Diverse, für Schwule, Lesben und andere Queers, und er will den vor über 200 Jahren ihres Landes beraubten Mapuche zu ihrem angestammten Recht verhelfen. Kurzum: Er will die Zeit des Neoliberalismus in Chile beenden.

Das wird nicht leicht werden. Die gesamte Wirtschaftselite und ihre Massenmedien standen im Wahlkampf hinter dem Gegenkandidaten José Antonio Kast, einem stockkatholischen, rechtsextremen Pinochet-Verehrer, der Frauen am liebsten am Herd oder im Kreisssaal sieht. Kast war für Kapitalist:innen die Garantie, dass die Wirtschaftsordnung Pinochets nicht angetastet wird. Sie werden dieses System trotz der Wahlniederlage mit Zähnen und Klauen verteidigen. Dass sie dabei auch vor extremen Mitteln nicht zurückschrecken, weiss man in Chile seit dem 11. September 1973. Der vergangene Sonntag ist noch lange kein Schlussstrich unter das neoliberale Kapitel. Aber er ist eine wichtige Etappe im Kampf um dessen Ende.