Bäuer:innenproteste: Allein auf dem Riesentraktor

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Dieselrauch und Drohgebärden, aggressive Männer, Allianzen mit Rechtsextremen – oder nur halbherzige Abgrenzung: Es gibt viele Gründe, den Landwirtschaftsprotest in Deutschland mit Unbehagen zu beobachten. Die AfD mischt mit, manche Demonstrant:innen tragen Nazisymbole und Fahnen des Deutschen Reiches, in Konstanz tauchten Schweizer Freiheitstrychler auf. Bei vielen Linken liegt der Reflex nahe: Sind doch alles Faschos. Verständnislosigkeit dominiert: Die Landwirtschaft ist der grösste Budgetposten der EU, seid doch mal zufrieden! Wer so argumentiert, hat die brutalen Mechanismen dieser Branche nicht verstanden. Die Wut auf den Traktoren hat nachvollziehbare Gründe. Sie sind ökonomisch. Und sie reichen viel tiefer als die angekündigten (und teilweise zurückgenommenen) Subventionskürzungen, die den Protest auslösten.

Es existiert in Deutschland ein alternativer Bauernverband, der mit klugen Analysen auffällt: die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft (AbL). «Wir haben grösstes Verständnis für die Proteste», sagt ihr Sprecher Phillip Brändle. «Der Deutsche Bauernverband (DBV) sagt, die angekündigten Kürzungen seien der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen bringe. Das stimmt. Aber wir sollten auch über das Fass reden.»

Die Überzeugung, Europa müsse die Welt ernähren, also möglichst günstig viel produzieren und exportieren, prägt den DBV wie die meisten klassischen EU-Bäuer:innenverbände. Brändle hält das für einen Irrweg: «Das Ziel kann nicht sein, die Weltmärkte mit günstigem Schweinefleisch zu versorgen. Wir brauchen eine Qualitätsproduktion für die Märkte vor Ort.» Die Landwirtschaft habe praktisch keine Marktmacht: «Verarbeitung und Handel diktieren die Preise. Die Bauern sind häufig nur Restgeldempfänger.» Ausserdem fehle die Finanzierung der dringend nötigen ökologischen Transformation: «Wir Bauern können Umwelt-, Klima- und Grundwasserschutz und artgerechte Tierhaltung. Die politisch Verantwortlichen müssen aber endlich dafür sorgen, dass diese Leistungen auch wirtschaftlich honoriert werden.»

Das Absurde ist: Deutschland hat eine breit abgestützte Strategie für eine Transformation ausgearbeitet, wie Brändle sie fordert. Die sogenannte Borchert-Kommission kümmerte sich um die Tierhaltung, die Zukunftskommission Landwirtschaft um die ganze Branche. Doch umgesetzt wurde davon bis jetzt fast nichts. «Das bisherige Agieren von Landwirtschaftsminister Cem Özdemir ist mutlos und enttäuschend», sagt Brändle. «Er lässt sich von der FDP auf der Nase herumtanzen.»

Mit jeder technischen Effizienzsteigerung kann die Landwirtschaft pro Arbeitskraft mehr produzieren. Wer zuerst in neue Technik investiert, profitiert kurzfristig – doch sobald die Neuerung Standard wird, sinkt der Preis der erzeugten Lebensmittel. Das sorgt dafür, dass sich ein Teil der Bäuer:innen allmählich selbst wegrationalisiert, während sich die anderen hoch verschulden. Die soziale Isolation wächst: Längst sind Bäuer:innen auch auf dem Land eine kleine Minderheit, in Deutschland noch mehr als in der Schweiz. Bäuerliche Treffpunkte sind verschwunden, kollektive Arbeiten wie das Heuen, die viele Menschen zusammenbrachten, längst passé. Ein europäischer Landwirt verbringt heute die meiste Zeit allein auf einem sehr grossen Traktor. Und nun kommen die Riesentraktoren, diese eindrücklichen Symbole einer an industrieller Effizienz orientierten Agrarpolitik, in die Städte. Ist den Protestierenden bewusst, wie gross ihre Verantwortung ist? Werden sie ihre Anliegen verständlich machen – oder lassen sie sich von Rechten instrumentalisieren, die vom Umsturz träumen?

Anders als die meisten Industriezweige hätte die Landwirtschaft das Potenzial, wirklich nachhaltig zu werden: ihre Grundlagen zu erneuern, statt sie aufzubrauchen. Sie könnte vielfältige Landschaften mit ihren Pflanzen, Tieren und Wasserressourcen pflegen, klimapositiv sein und viele interessante Arbeitsplätze schaffen. Doch das geht nur mit einer Transformation, die weit über die Branche hinausreicht. Was die Arbeitsgemeinschaft bäuerliche Landwirtschaft fordert, wäre der erste Schritt.

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Kommentare

Kommentar von Silvia Scherz

Do., 11.01.2024 - 23:16

Sehr gute und verständliche Analyse! Vielen Dank dafür. Und zentral ist, dass der Dialog nun stattfindet und vor allem auch für die Öffentlichkeit nachvollziehbar wird.

Kommentar von Philipp Horn

Fr., 12.01.2024 - 18:00

Das Beste was ich zum Thema bisher gelesen habe