Sachbuch: Sind alle da?
«You are here» – der rote Punkt auf öffentlichen Orientierungskarten in Parks oder an Tourismushotspots prangt auf der Rückseite des «Handbuchs Neue Schweiz» – du bist hier. Hier in der Schweiz, einem Land, das viel diverser ist, als das manche wahrhaben wollen: Laut Statistik haben heute über fünfzig Prozent der Kinder und Jugendlichen einen sogenannten Migrationshintergrund. Wie sieht diese so vielfältige Schweiz aus, wie lässt sie sich fassen? Das «Handbuch Neue Schweiz», herausgegeben vom postmigrantischen Thinktank Institut Neue Schweiz (Ines), ist ein Versuch, sich dieser Fragen anzunehmen.
Erst einmal sieht die Sache einfach gut aus: ein schön gestaltetes, angenehm in der Hand liegendes Buch mit einer gut kuratierten Bildauswahl, gerade so am Kaffeetisch vorbeigerutscht. Das «Handbuch» versammelt wissenschaftliche und künstlerische Beiträge von fast fünfzig Autor:innen; die Texte reflektieren aktuelle Diskurse, schlagen aber auch historische Kapitel auf, etwa zur Mitenand-Initiative oder zu den kolonialen Wurzeln des «Erfolgsmodells Schweiz».
Ein solches Buch hat natürlich ein Zielgruppenproblem, weil viele Inhalte den migrationspolitisch Bewanderten bekannt sein dürften, frischer Interessierten allerdings vieles erklärt werden muss. Die Herausgeber:innen lösen das sinnvoll mit einem Glossar, das einen knappen, zugänglichen Überblick über wichtige Begriffe von «Afrofeminismus» über «Intersektionalität» bis «Urban Citizenship» gibt. Die Auswahl der Beiträge, so wird im Vorwort bemerkt, sei nicht leicht gewesen – wer bekommt einen Platz, was wird ausgelassen? In diesem Zusammenhang ist es zumindest fragwürdig, wieso einmal mehr Komiker Renato Kaiser als weisser Mann darüber schreiben darf, dass er ein weisser Mann ist (und das auch weiss).
Viel spannender sind die vielen persönlichen Geschichten – sie sind es, die den Band so lebendig machen. Hier wird – gerade in den literarischen Beiträgen etwa von Dragica Rajcic Holzner, Melinda Nadj Abonji oder Milenko Lazic – das diffuse migrantische Zwischengefühl, die komplizierte Beziehung zu einer «Heimat» auf einmal greifbar.
INES – Institut Neue Schweiz: Handbuch Neue Schweiz. Diaphanes Verlag. Zürich 2021. 384 Seiten. 48 Franken