Essay: Die Logik lautet: Wenn wir globale Probleme in Geschäftsmodelle übersetzen, dann werden wir sie auch lösen können

Nr. 50 –

Profitgier ist out: Das Wef will heute ein Forum der Nachhaltigkeit sein, im Silicon Valley definieren sich Geschäftsmodelle sogar wesentlich durch die Lösung sozialer Probleme. Auch wenn das alles nur PR ist, wozu eigentlich?

Nachdem das Weltwirtschaftsforum (Wef) 2021 in Singapur pandemiebedingt ins Wasser gefallen ist, steht nun die Rückkehr nach Davos an. Unter dem Motto «Working Together, Restoring Trust» begreift sich das Treffen der kapitalistischen Eliten als «erste globale Veranstaltung, die eine Agenda für einen nachhaltigen Aufschwung erarbeiten wird». Konkret soll es um die Klimakatastrophe gehen, die Zukunft der Arbeit und den Stakeholderkapitalismus – wobei Letzteres eine Geschäftsauffassung meint, bei der die Anliegen aller am Unternehmen beteiligten Akteur:innen einfliessen sollen. Statt also nur die Interessen der Aktionäre (Shareholder) zu beachten, sollen zum Beispiel auch die Arbeiter:innen und lokalen Communitys berücksichtigt werden.

Das Wef 2022 ist nicht das erste, an dem eine neue Verpflichtung gegenüber dem Allgemeinwohl formuliert wird; schon vor Corona ging es um globale Ungleichheit und das Klima. Auch der «Business Roundtable» – eine Vereinigung der CEOs der grössten US-Unternehmen – denkt in aktuellen Publikationen laut über die gesellschaftliche Verantwortung privater Unternehmen nach. Der Verband veröffentlichte kürzlich ein Positionspapier, eine «Erklärung über den Zweck eines Unternehmens». Darin wird über die Verantwortung von Big Business angesichts globaler Herausforderungen sinniert. Etwas mehr als zwanzig Jahre zuvor hatte sich der Business Roundtable noch bedingungslos hinter das Primat des «Shareholder Value» gestellt; im Bericht von 2019 wird nun jedoch explizit davon gesprochen, dass Big Business einen Beitrag zur Lösung der Menschheitsprobleme leisten müsse und dass das Streben nach Profit nicht mehr sakrosankt sei. Diese Verlautbarungen mögen Klaus Schwab und Co. noch nicht zu Sozialrevolutionären machen. Dennoch scheinen sich bemerkenswerte Risse in der Businessorthodoxie aufzutun.

«Gier ist richtig»

Um diese Vorgänge zu verstehen, muss an das traditionelle Selbstverständnis der kapitalistischen Eliten erinnert werden. Der neoklassische Ökonom Milton Friedman, der zusammen mit Friedrich Hayek als intellektueller Wegbereiter des Neoliberalismus gilt, prägte das lange vorherrschende Selbstbild massgeblich mit. In einem Essay in der «New York Times» begründete er 1970 die einflussreiche Friedman-Doktrin, die besagt, dass sich die Verantwortung von Privatunternehmen darin erschöpft, Profite zu generieren. Die alleinige Fokussierung auf die Steigerung des Unternehmenswerts führe dazu, dass die «unsichtbare Hand» des Marktes gesellschaftlich wünschenswerte Ergebnisse hervorbringe. Die Friedman-Doktrin wurde im Verlauf der achtziger und neunziger Jahre zum Common Sense der Businesswelt und strahlte bis in die Populärkultur aus: Wenn Gordon Gekko im Film «Wall Street» (1987) an der Aktionärsversammlung verkündet, «die Gier ist gut, die Gier ist richtig, die Gier funktioniert», zeigt er sich von genau dieser libertären Marktideologie beseelt. Dabei werde die Gier nicht nur den schwerfälligen Grosskonzernen Beine machen, sondern letztlich auch zur Rettung dieser anderen schlecht funktionierenden Firma – der USA als Ganzes – beitragen.

Die Friedman-Doktrin hat seither an Strahlkraft eingebüsst, und die Shareholder-Value-Ideologie befindet sich zumindest  diskursiv auf dem Rückzug. Darren Walker, Präsident der Ford-Stiftung und Vorstandsmitglied von Pepsi, spricht in einem Interview mit der «New York Times» aber auch davon, wie tief diese Ideologie sitzt: «Die Ideologie des Shareholder Value hat zur ökonomischen Ungleichheit beigetragen, die wir heute in Amerika sehen. Die Chicagoer Schule der Ökonomie [eine einflussreiche liberale Theorietradition, Anm. d. Red] ist so tief in der Psyche von Investor:innen, der Rechtslehre und dem CEO-Mindset eingelassen, dass es nicht einfach wird, diese Ideologie zu überwinden.»

Und doch mehren sich die Anzeichen, dass Big Business gerade sein Selbstbild renoviert; die Topmanager:innen von heute scheinen sich nicht mehr nur mit Restrukturierungen, feindlichen Firmenübernahmen und schamloser Selbstbereicherung zu beschäftigen. Stattdessen werden auffällig häufig Ambitionen zur Rettung der Welt beschworen. Unter den Stichwörtern «Shared Value» oder «Purpose» oder mit der steigenden Relevanz von «Mission Statements», in denen der moralische Auftrag von Unternehmen festgehalten wird, zeigt sich die Erosion einer Marktdogmatik, die die «unsichtbare Hand» für jedes noch so komplexe soziale Problem beschwört. Shared Value und Nebenfolgenreduktion lösen die kurzfristige Profitmaximierung als strategische Räson ab.

Investmentaktivismus

Ist das alles aber nicht einfach PR? Es kostet die Konzerne schliesslich nichts, grosse Töne anzuschlagen, um dann doch nur «business as usual» zu betreiben. Allerdings findet sich die neue Rationalität inzwischen auch bei Investmentfonds, die Vermögen von Superreichen und Grossbanken verwalten und damit entscheiden, wie das Geld der Welt tatsächlich reinvestiert wird. So war im «Letter to the CEOs» von Blackrock, dem grössten Vermögensverwalter der Welt, jüngst Bemerkenswertes zu lesen. Firmen, an denen Blackrock nennenswerte Anteile hält, müssen ihre Strategien proaktiv auf die Klimakatastrophe ausrichten, ihren negativen Einfluss auf lokale Communitys begrenzen und Massnahmen für mehr Diversität auf ihren Teppichetagen ergreifen.

Gerade war auch zu lesen, wie sogenannte aktivistische Investor:innen der Gruppe Engine No. 1 den Erdölgiganten Exxon Mobil dazu gezwungen haben, sein Direktorium auszuwechseln, weil dessen geplanter Beitrag zur Klimaneutralität zu wenig ambitioniert war. Die kleine Gruppe von Investor:innen hielt insgesamt nur 0,02 Prozent der Anteile von Exxon, konnte aber auf die Unterstützung von Blackrock, Vanguard und State Street zählen, der drei grössten Vermögensverwalter der Welt. Fast könnte man meinen, dass die Methoden der «Unternehmensplünderer» der Neunziger, die Firmen übernahmen und sie zu Restrukturierungen zwangen, um aus den gestiegenen Aktienkursen Profit zu schlagen, heute im Aktionshandbuch von Umweltaktivist:innen aufgeführt werden – mit dem entscheidenden Unterschied, dass dieser Investmentaktivismus nicht der Bereicherung der Wölfe der Wall Street, sondern der Rettung der Welt dienen soll.

Klassische Wall-Street-Firmen wie Blackrock bilden zwar noch immer das Rückgrat des globalen Finanzkapitalismus. Unterdessen hat sich jedoch sowohl der Kapitalismus als auch der ihn bestimmende Esprit verändert; heute ist es eher das Silicon Valley, das die Rolle des Ideengebers spielt. Wenig überraschend geht von Kalifornien auch die einflussreichste erneuerte Businessideologie aus. Anders als Blackrock oder der Business Roundtable fassen Google oder Tesla die Allgemeinwohlverpflichtung der Unternehmen gerade nicht als moralisches Gebot auf, dem man mithilfe von Corporate Social Responsibility und der Reduktion negativer Nebenfolgen nachkommen soll. Vielmehr bieten dem Silicon Valley zufolge die drängendsten Menschheitsprobleme zugleich die grössten Geschäftsmöglichkeiten. Zu ihrer Lösung beizutragen, ist folglich die einzige rationale Unternehmensstrategie. Dieser «solutionistische Geist», wie es die Soziologen Oliver Nachtwey und Timo Seidl nennen, umfasst die Überzeugung, dass es für jedes soziale und politische Problem eine technologisch-unternehmerische Lösung gibt.

So soll die Klimakatastrophe durch Teslas Elektromobilität ausgebremst werden; Libra, die Kryptowährung des Facebook-Konzerns Meta soll die globale Armut «fixen»; kommerzielle Raumfahrtprojekte sollen den Fluchtweg von einem brennenden Planeten vorbereiten; und Facebook soll als Tool dienen, um die Spaltung der Menschheit durch Vernetzung zu überwinden. Die Logik lautet: Wenn wir globale Probleme in Geschäftsmodelle übersetzen, dann werden wir sie auch lösen können.

Spätestens hier wird deutlich, dass das Gewinnstreben als Selbstzweck nicht angetastet wird, sondern im Gegenteil gestärkt aus der ideologischen Transformation hervorgeht. In einer Welt, in der Probleme keinen gesellschaftlichen oder systemischen Charakter haben und nur wegen eines Mangels an technischen Lösungen bestehen, den die richtige App beheben kann, bedarf es keiner demokratischen Willensbildung – ganz zu schweigen von politischer Regulation der Wirtschaft. Der freie Markt bleibt als Koordinationsmechanismus unangetastet und wird weiter legitimiert.

Druck von innen

Weshalb aber wagen sich die Konzerne mit den Geschichten, die sie neuerdings über sich selbst erzählen, überhaupt so weit auf die Äste hinaus? Immerhin erwirtschafteten sie mit ihrem bisherigen, weit anspruchsloseren Selbstbild auch schon satte Profite. Vielleicht ist diese ideologische Erneuerung eben doch als PR zu verstehen, allerdings mit einer nicht intendierten Message: Sie bezeugt die Verunsicherung einer kapitalistischen Elite, deren schamlose Bereicherung allen Krisen zum Trotz nie ernsthaft eingeschränkt wurde. Einer Elite, die wohl allmählich das Gefühl beschleicht, dass die Bonanza auf den Finanzmärkten nicht ewig fortdauern wird. Und die erkannt hat, dass profitable Geschäfte auf einem brennenden Planeten zunehmend erschwert werden könnten. Nicht zuletzt stellt die Erneuerung den Versuch dar, einer stärkeren demokratischen Kontrolle der Geschäfte zuvorzukommen und sozialen Bewegungen den Wind aus den Segeln zu nehmen.

Genau dieser Wind scheint aber den Konzernen tatsächlich entgegenzublasen, und zwar auch den «philanthrokapitalistischen» Digitalunternehmen. US-Präsident Joe Biden hat mit Tim Wu einen wichtigen Regulationsexperten und prominenten Kritiker von Big Tech in sein Team geholt; China hat derweil damit begonnen, den eigenen Technologiesektor, der lange gewisse Freiheiten genoss, dem Diktat der Partei zu unterstellen. Alphabet, die Muttergesellschaft von Google, hat es wieder mit einer Welle von kartellrechtlichen Klagen zu tun und muss wegen ihres Missbrauchs quasimonopolistischer Marktmacht Millionenbussen zahlen. Zudem haben sich Hunderte Google-Mitarbeitende zu Beginn des Jahres gewerkschaftlich organisiert, was auch Druck von innen erzeugt.

Nicht nur die Digitalkonzerne bekommen die sich verschärfenden gesellschaftlichen Spannungen zu spüren, auch in der Industrie entwickeln sich explosive Konflikte. Die USA werden gerade von einer Welle von Arbeitskämpfen erschüttert. Im «Striketober» diesen Herbst streikten landesweit über 100 000 Arbeiter:innen, allein beim Traktorhersteller John Deere kämpften 10 000 Arbeiter:innen in der ersten Arbeitsniederlegung seit 35 Jahren für bessere Tarifverträge. Auch in zivilgesellschaftlichen Bewegungen wächst die Kritik an den kapitalistischen Eigentumsverhältnissen: Während die Berliner Mieter:innenbewegung die Enteignung grosser Wohnkonzerne fordert, drängen gleich mehrere Petitionen auf die Vergesellschaftung von digitalen Infrastrukturen wie Facebook oder Google.

Johannes Truffer Foto: Harald Bader

All diese Bestrebungen zeugen von einer abnehmenden Gunst der Öffentlichkeit gegenüber Big Business und legen nahe, dass die hehren Ideale, die zurzeit aus den Teppichetagen der Grosskonzerne emittiert werden, nicht ganz so hehrem Eigeninteresse entstammen. Dennoch reicht eine anhaltende Reputationskrise nicht aus. Das zeigten die rufschädigenden Kampagnen von NGOs gegen Unternehmen in den neunziger Jahren, die bald durch intensiviertes Marketing aufgefangen wurden. Darum braucht es überzeugende Modelle, um Konzerne, die öffentliche Infrastrukturfunktionen übernehmen, der demokratischen Kontrolle zu unterstellen. Nur so lässt sich die Welt am Ende vor den kapitalistischen Weltretter:innen retten.

Johannes Truffer

Der Soziologe Johannes Truffer (26) ist Assistent am Lehrstuhl von Oliver Nachtwey an der Universität Basel. In seiner Dissertation, die empirische Forschung und Kritische Theorie verbindet, untersucht er die Coronaproteste im internationalen Vergleich.