Literatur: Endlich ein Körper von Gewicht

Nr. 2 –

Spion, Gläubiger, Schlepper: Der in Deutschland lebende kurdische Autor Bachtyar Ali erzählt von einem Mann, der abhebt und nach jedem Absturz wieder neu anfängt.

Bachtyar Ali engagierte sich als Student gegen das Regime von Saddam Hussein. Nun hat er eine Parabel über die Geschichte des Irak geschrieben. Foto: Leonardo Cendamo, Getty

Mit dem Traum vom Fliegen verbinden viele Menschen Freiheit und spirituelles Erlebnis. Diese Überschreitung menschlicher Fähigkeiten birgt jedoch auch Momente der Gefahr: Wer fliegt, kann abstürzen und zu Tode kommen. In Bachtyar Alis schmalem Roman «Mein Onkel, den der Wind mitnahm» klingt Letzteres schon im Titel an – allerdings hat dieser Onkel, Djamschid Khan, Spross einer Elitefamilie, sich gar nie darum bemüht zu fliegen. 1979 wurde er von den Schergen der irakischen Baath-Partei als Kommunist verhaftet und in ein Sondergefängnis nach Kirkuk verbannt. Eines Tages hebt der gefolterte und spindeldürr gewordene Mann vom Boden ab. Der Wind trägt den Bewusstlosen in die Heimat des Ich-Erzählers, Salar, der diese Geschichte viel später aufschreibt. Doch: «Wie soll ich es schaffen, das Leben eines Mannes zu erzählen, der ständig von Neuem sein Gedächtnis verlor?», fragt sich Salar.

Gedemütigt im Käfig

Als Sechzehnjähriger wurde Salar zusammen mit seinem Cousin Smail abkommandiert, den Onkel zu bewachen, damit ihn der Wind nicht unversehens forttrüge, denn fliegen zu können, empfand Djamschid als Schande. «Sein Leben hing am Seil, das Ismail und ich hielten», erinnert sich Salar. Wie beim Erzählfaden der Scheherazade entrollen sich mit diesem Seil märchenhafte Abenteuer und gefährliche Situationen, die nicht nur Djamschid, sondern auch die beiden jungen Aufpasser manchmal fast das Leben kosten.

Im Krieg zwischen dem Iran und dem Irak wird «der fliegende Kurde» beispielsweise als Spion eingesetzt, um die gegnerische Schlachtordnung auszuspähen. Er stürzt ab und wird von den Iranern gefangen genommen, die ihn für ihre Streitkräfte anheuern. Als der Krieg beendet ist, kehrt der dünne, schwache Mann in die Heimat zurück und verfällt einer jungen Heiratsschwindlerin, die ihn um sein Erbe bringt. Nach einem kurzen Intermezzo bei der Arbeiterpartei Kurdistans hat Djamschid während eines Flugs ein Rendezvous mit Gott, er wird gläubig und von einem Mullah als Prophet missbraucht. Irgendwann betätigt sich der geschäftstüchtige Djamschid dann als erfolgreicher Menschenschlepper, der Fluchtwege überwacht. Schliesslich endet er als fliegende Attraktion gedemütigt in einem Käfig. Nach jeder dieser Episoden, die mit einem nicht nur symbolischen Absturz enden, verliert Djamschid sein Gedächtnis, er ist «ein Geschöpf, das dazu verurteilt ist, jedes Mal wieder von vorn zu beginnen».

Mit Neuanfängen kennt sich der 1966 im nordirakischen Sulaimanija geborene Bachtyar Ali bestens aus. Als Geologiestudent kämpfte er in den achtziger Jahren gegen das Regime Saddam Husseins, wurde verletzt und begann zu schreiben. In den neunziger Jahren migrierte der Autor, der mit Nachnamen eigentlich Muhammed heisst, nach Deutschland, wo er mit dem Roman «Der letzte Granatapfel» bekannt wurde. In seiner Parabel «Mein Onkel, den der Wind mitnahm» scheint das Unwahrscheinliche und all das nicht zu Erzählende auf, das seinem Land in den vergangenen fünf Jahrzehnten widerfahren ist: Kriege, Tod, Folter und Gewalt und die Flucht Hunderttausender Menschen.

Als Kundschafter leidet auch Djamschid unter seiner unfreiwilligen Mittäterschaft: «Mit meiner Hilfe werden viele Menschen getötet. Durch meine Unterstützung werden viele Menschen zu Waisenkindern. Ich wollte niemals an einem Krieg beteiligt sein», gesteht er den beiden Neffen im Iran-Irak-Krieg und versucht vergeblich, an Gewicht zuzulegen, um fluguntauglich zu werden. Während der langen Nächte vermittelt das Seil den jungen Männern, die ihn halten, auch die Gefühle, die Ängste und die Bedürfnisse ihres Onkels, während dieser an einem Tagebuch für die Zeit nach dem Krieg feilt. Doch während die jungen Kurd:innen im Land versuchen, sich zu wehren wie einst der Autor, sind die älteren resigniert.

Der Leib als Schrifttafel

Die Schauplätze, an die der Roman führt, sind zugleich märchenhaft und real wie auch das Personal. Gelegentlich erlaubt Ali sich burleske Szenen wie in der Episode mit Safinaz Sdiq, die an Djamschids Vermögen herankommen will. Doch insgesamt sind Salars Erinnerungen an seinen Onkel ernst grundiert, fast melancholisch, denn sowohl der Erzähler als auch Djamschid Khan sind tragische Figuren: Djamschid, der ewig vom Wind Verwehte, der zum Vergessen verurteilt ist, Salar, der sein Leben lang in den Himmel starrt, «als suchte ich etwas, von dem ich selbst nicht wusste, was es war». Am Ende schreibt Salar dem Onkel seine Lebensgeschichte auf den Leib wie auf «eine alte Schrifttafel», die nur er lesen kann, weil kein Mensch ihre Sprache versteht. In seiner neuen Exilheimat entwickelt Djamschid endlich einen Körper von Gewicht: ein sprechendes Bild für das Schicksal all derer, die gezwungen sind, ihre Heimat zu verlassen und anderswo Wurzeln zu schlagen.

Bachtyar Ali: Mein Onkel, den der Wind mitnahm. Aus dem Kurdischen von Ute Cantera-Lang und Rawezh Salim. Unionsverlag. Zürich 2021. 160 Seiten. 27 Franken