Film: Was tun?

Nr. 3 –

Die Welt geht unter, aber die Möglichkeiten scheinen nach wie vor grenzenlos. In Joachim Triers «The Worst Person in the World» hetzt eine Studentin von Entschluss zu Entschluss und merkt, dass es den richtigen nicht geben kann.

Beherrscht vom flackernden Drang zur Selbstfindung: Renate Reinsve als Julie in «The Worst Person in the World» Still: Frenetic Films

Julie (Renate Reinsve) studiert Medizin, weil da die Zulassung am schwierigsten ist und ihre guten Noten etwas bedeuten würden. So weiss es jedenfalls die allgegenwärtige Stimme der Erzählerin, die in «The Worst Person in the World» den ganzen Film über zwischen neutraler Allwissenheit und amüsierter Beobachtung oszilliert. Ablenkungen aller Art, Social-Media-Feeds und «unlösbare globale Probleme» erschweren aber Julies Studium, und auf einmal galt ihr Interesse immer schon «der Seele» und nicht dem Körper, zumal die Arbeit eines Chirurgen im Grunde der eines Schreiners ähnle. Oder auch nicht. Die Mutter nickt irritiert, aber verständnisvoll, und Julie schreibt sich in Psychologie ein. Ein attraktiver Dozent flirtet sie im Hörsaal an, und nach einem Schnitt liegen die beiden postkoital zusammen im Bett. Julie fotografiert den schönen Männerkörper mit dem Handy und erkennt, dass sie eigentlich zur Fotografin berufen ist. Die Mutter nickt irritiert, aber verständnisvoll, als Julie ihr mitteilt, dass sie ihr Studiengeld in Fotoequipment investiere. Eine kreative Session mit einem anderen schönen Männerkörper, Sex, eine Party, ein neuer Mann: Aksel (Anders Danielsen Lie) ist Zeichner politisch unkorrekter Comics, fünfzehn Jahre älter und will sich nach der ersten Nacht wieder von Julie trennen, weil er sich sonst verlieben würde. Julie versteht das, oder auch nicht, verlässt die Wohnung, überlegt es sich anders und rennt zurück in Aksels Arme. Als sie bei ihm einzieht, merkt sie beim Einräumen der Bücher, dass sie eines doppelt hat. Er fragt sie, ob sie glücklich sei, sie sagt Ja. Irisblende, schwarzes Bild.

Gerade mal neun Minuten sind vergangen oder, wie es im ersten von insgesamt vierzehn Zwischentiteln hiess: der Prolog.

Melancholisch, voller Hoffnung

Joachim Triers Kino lebt von unauflösbaren Gegensätzen. Die Filme des entfernt mit Lars von Trier verwandten Norwegers, von «Reprise» (2006) über «Oslo, 31.  August» (2011) bis zum aktuellen, etwas irreführend als romantische Komödie beworbenen «The Worst Person in the World», vereinen stets mehrere, mutmasslich widersprüchliche Eigenschaften: Sie sind melancholisch, aber hoffnungsvoll, literarisch streng und filmisch verspielt, reflektiert und sprunghaft, von ihrer Gegenwart geprägt und zeitlos entrückt. Und wenn diese unwahrscheinliche Zusammenführung in «The Worst Person in the World» etwas angestrengter wirken mag als in den beiden Vorgängern, so ist es wohl doch der «vollständigste» Film dieser sogenannten Oslotrilogie.

Das soll heissen, dass Trier hier noch mehr als früher die emotionale Lebenswelt seiner Figuren nicht bloss abbildet, sondern in überdurchschnittlich vielen Aspekten auch nachfühlbar gestaltet, ohne dabei – und das ist das Besondere – seine Figuren zu abstrakten Vertreter:innen zeitgenössischer Typen zu machen. Das ist hier insbesondere auch das Verdienst der Schauspieler:innen – allen voran von Renate Reinsve, die als Julie mit ihrem schier flackernden Drang zur Selbstfindung jedes Bild zum Leuchten bringt, und von Anders Danielsen Lie, dem Hauptdarsteller aus Triers früheren Filmen, in seiner bislang vielschichtigsten Rolle.

Die Geschichte, die nach dem atemlosen Prolog einsetzt und in zwölf Kapiteln erzählt wird, folgt Julie in ihrer Erfahrung, kurz vor dem Jahr 2020 eine junge Erwachsene in einem aufgeklärten westlichen Land zu sein, wie auch bei ihrer Erkenntnis, dass all diese Aufklärung am Ende wenig hilft, wenn die Welt und alle sich darin befindenden Körper dem Zerfall geweiht sind. Ob dafür Schuldige auszumachen sind oder nicht, spielt im Hinblick auf das eigene Leben keine Rolle, und die wichtigen Entscheidungen sind nach wie vor vom Zufall bestimmt. Soll man Kinder haben wie die glücklich zerstrittenen Gleichaltrigen, eine Affäre mit einer Zufallsbekanntschaft beginnen, den Partner schliesslich verlassen, obwohl er der richtige sein könnte? Oder auch nicht?

Bis die Zeit stillsteht

«The Worst Person in the World» gelingt das seltene Kunststück, dem Innenleben seiner Protagonistin formal ganz und gar zu entsprechen. Wie in einer fernen, aber lebhaften Erinnerung fasst der Film Monate in wenigen Sekunden zusammen, um dann scheinbar beiläufige Momente ins Unendliche zu dehnen: das Kennenlernen der neuen Person, der psychedelische Trip oder jene «Was wäre, wenn …»-Sequenz, in der die Zeit ganz angehalten wird und die Protagonistin durch eine Welt erstarrter Menschen und Möglichkeiten rennen lässt. Ein absolut magischer Moment.

Das alles ist dermassen virtuos, dass der letzte Eindruck schon fast wieder zwiespältig ist (nicht unbedingt im schlechten Sinne). Die assoziativen Sprünge wirken hier kontrollierter als noch im formal wild verspielten «Reprise», die Melancholie ist erträglicher, weil sie weniger tief schneidet als in «Oslo, 31.  August». Was er am meisten bedaure, sagt Aksel zu Julie in einem letzten langen und traurigen Gespräch, sei, dass es ihm nie gelungen sei, sie erkennen zu lassen, welch wundervolle Person sie sei. Der Filmtitel mag ironisch gemeint sein, aber es könnte sein, dass wir alle gemeint sind. Oder auch nicht.

The Worst Person in the World. Regie: Joachim Trier. Norwegen 2021