Pandemiebekämpfung: Economikron regiert

Nr. 3 –

Auf dem Pizol war die Stimmung am Wochenende so prächtig wie das Wetter: Wegen der laschen Schutzmassnahmen drängten Besucher:innen aus dem nahen Ausland in Massen auf die Piste. «Zahlen wie vor der Pandemie», sagte der Bergbahnbetreiber strahlend in die SRF-Kamera. Ähnlich heiter ging es am Lauberhorn zu. Ohne Maskenpflicht und Coronasorgen feierten Tausende in Wengen ihre Skistars und den eigenen Egoismus. Als wären Schlangen vor dem Lift und Grossanlässe inmitten einer Infektionswelle Menschenrechte. Helvetische Freiheit im winterlichen Schnee. «Der Berg lallt», schrieb der «SonntagsBlick».

Dass diese Freiheit nicht für alle gleichermassen gilt, zeigte sich in Chur, wo die Bündner Regierung eine Meldepflicht fürs Pflegepersonal beschloss. Menschen, denen jahrelanger Spardruck und die Coronakrise so viel abverlangt hatten, dass sie ihrem Beruf den Rücken kehrten, sollen bei Engpässen in den Spitälern nun also wieder in den Einsatz.

Die Nachrichtenschnipsel der letzten Woche zeigen einmal mehr das Credo der Pandemieschweiz: Statt der Menschen schützt der Staat das Kapital, während die Fallzahlen neuen Rekorden entgegenschnellen. Ihr tatsächliches Ausmass ist aufgrund der wahrscheinlich hohen Dunkelziffer nicht einmal klar. Hauptsache, «die Wirtschaft» floriert.

Illustrieren lässt sich diese Priorisierung an den neuen Quarantäneregeln. Während das Infektionsgeschehen ausser Kontrolle geriet, tauchte der Bundesrat – abgesehen von einem gut inszenierten Silvestertelefonat – wochenlang ab. Was wohl nicht weiter schlimm war, da offenbar ohnehin die Lobbyisten den Plan diktierten. Dem Ruf von Economiesuisse nach Verkürzung der Quarantäne folgte der Bundesrat dann gleich in seiner ersten Sitzung. Dass die Viruslast nach fünf Tagen weiterhin hoch ist, die Evidenz also gegen die Lockerung spricht, spielte keine Rolle. Stattdessen wollen einige – Stichwort: Eigenverantwortung – die Quarantäne nun ganz abschaffen.

Längst ist es zum Normalfall geworden, dass der Verband der Konzerne die Pandemiepolitik vorwegnimmt. So war es beim «Drei-Phasen-Modell» von 2021, bei der Erhebung der Spitalauslastung zur einzigen Richtgrösse oder der «Immunisierung», wie Finanzminister Ueli Maurer die gegenwärtige Durchseuchung neulich zynisch nannte. Nimmt man das Interesse der Wirtschaft als Massstab, kann die Regierungspolitik nicht verwundern, sie ist vielmehr konsequent: Besser, es stecken sich alle rasch an, damit die kapitalistische Maschine wieder reibungslos läuft.

Abgesehen davon, dass diese Politik kurzsichtig ist, weil sie den Pandemieverlauf nicht antizipiert, bleiben Tausende mit potenziell schwerwiegenden Langzeitfolgen einer Erkrankung quasi schutzlos zurück. Ein eskalierendes Infektionsgeschehen ist aber kein Naturzustand, bessere Massnahmen hätten den Anstieg zumindest bremsen können. Stattdessen müssen jene, die sich nicht ins Homeoffice zurückziehen können, nun den Personalmangel ausgleichen.

Ohnehin zeigen sich die Klassenverhältnisse jetzt in ihrer ganzen Gewalt. Kürzlich kam eine ETH-Studie zum Schluss, dass die Coronakrise die Ungleichheit auf dem Arbeitsmarkt verschärfe, weil in den Niedriglohnbranchen am meisten Jobs verloren gingen. Eine Basler Untersuchung konstatierte, dass Personen mit niedrigem Einkommen psychisch am meisten gelitten hätten. Dass das Virus und dessen Folgen die Prekarisierten ungleich härter treffen, haben diverse Erhebungen bewiesen.

Das Primat des Kapitals spiegelt sich auch in der Vermögensverteilung. Das globale Ausmass der Misere zeigte diese Woche Oxfam: Derweil sich der Wohlstand der zehn Reichsten während der Pandemie verdoppelt habe – ein Zuwachs von 1,3 Milliarden US-Dollar pro Tag –, seien 160 Millionen Menschen in die Armut gerutscht. Eine Prognose lässt sich schon jetzt anstellen: Die sozialen Verwerfungen werden gewaltig sein. Bloss kommen diese Fragen in der Schweizer Diskussion kaum vor. Hauptsache, die Pisten sind offen.