Solothurner Filmtage: Inspektor auf Achse

Nr. 4 –

Freizeit ist, wenn keine Kund:innen im Laden sind: An den Solothurner Filmtagen landete man auf der untersten Stufe des Schweizer Arbeitsmarkts – und die beste Armee der Welt probte den Leerlauf.

Die Inspektoren kommen: Frédy Geiser (links) und ein Kollege von der Arbeitsmarktkontrolle im Film «Schwarzarbeit» von Ulrich Grossenbacher. Still: Fair & Ugly Filmproduktion

Wie war das nochmals mit dem alten Lamento? «Schweizer Filmemacher können einfach nicht erzählen», titelte die «NZZ am Sonntag», keine fünf Jahre ist das her. So pauschal traf das schon damals nicht zu, und inzwischen sorgt der Schweizer Spielfilm gerade in der Fiktion, auf die das damals gemünzt war, reihenweise international für Aufsehen. Wenn in zwei Wochen die Berlinale startet, stehen dort erstmals seit 33 Jahren gleich zwei Schweizer Spielfilme, von Michael Koch und Ursula Meier, im Wettbewerb um den Goldenen Bären.

An den Solothurner Filmtagen, im Interimsjahr nach der umstrittenen Absetzung von Direktorin Anita Hugi, konnte man diesen Aufschwung an den Nominationen für den Schweizer Filmpreis ablesen. Bei den Spielfilmen, wo «Soul of a Beast» von Lorenz Merz mit acht Nominierungen alle überragt, war die Konkurrenz dieses Jahr so hochklassig wie selten. Für einen internationalen Kritikerliebling wie «Das Mädchen und die Spinne», der es bis in die illustre Jahresbestenliste der «Cahiers du Cinéma» schaffte, hatte die Schweizer Filmakademie da gerade mal eine einzige Nominierung übrig, für den Schnitt.

Die besten Dialoge aber? An den Filmtagen selber gabs die dann trotzdem nicht in den Spielfilmen zu hören, sondern in «Schwarzarbeit», dem neuen Dokumentarfilm von Ulrich Grossenbacher. Elf Jahre nach «Messies» blickt der Berner Regisseur einmal mehr in jene Winkel, wo nicht alles so blitzsauber läuft in der Schweiz. Im Zentrum diesmal: Frédy Geiser und seine Kolleg:innen von der Arbeitsmarktkontrolle des Kantons Bern. Hunderte von Stunden ist Grossenbacher auf dem Rücksitz mitgefahren, hat sie mit der Kamera bei ihren unangemeldeten Kontrollen quer durch die Branchen begleitet: im Gastgewerbe, auf Baustellen oder in der privaten Care-Arbeit. Überall dort, wo potenziell schwarzgearbeitet wird – oft von Menschen, die gar nicht arbeiten dürften und dadurch erst recht jeglicher Ausbeutung ausgeliefert sind.

Acht Tage pro Woche

Ungeheuerlich, was die Kontrolleur:innen an Verstössen gegen das Arbeitsrecht antreffen. Gleich zu Beginn etwa, als Geiser eine neue Kollegin einführt und die beiden bei einem ungelernten Verkäufer landen, der als Angestellter allein einen Shop führt. Monatsgehalt? 550 Franken Basislohn, der Rest je nach Geschäftsgang. Freizeit? Ja, wenn gerade keine Kunden im Laden seien. Arbeitstage? Sieben. Und wenn die Woche acht Tage hätte, fügt der Mann hinzu, müsste er wohl acht Tage arbeiten.

Die Leute von der Arbeitsmarktkontrolle stehen da zwischen den Fronten. Sie sind nicht die Polizei und müssen doch Leute überführen. Aber kriminell sind ja eben nicht die schlecht bezahlten, teilweise schwarzarbeitenden Menschen, deren Personalien sie aufnehmen, sondern die Hinterleute. Dabei wird der Kontrolleur Zeuge persönlicher Dramen, die er durch sein Auftreten unweigerlich verschärft – was manchmal dazu führt, dass eine sowieso schon prekäre Existenz zusammenbricht.

Mitgefühl wie ein Zwieback

Trotzdem verrichten manche den Job ganz ungerührt, wie der Expolizist, der etwa so empathisch ist wie ein Zwieback (sagt er selber). Das menschliche Gravitationszentrum in diesem Film aber ist der Jurassier Frédy Geiser: eine Erscheinung wie ein Schwinger im Ruhestand, ein sanfter Riese, der sich ein untrügliches soziales Bewusstsein bewahrt hat. Überhaupt sind die Figuren, die Grossenbacher versammelt, ein Geschenk für diesen Film und die Dialoge so träf, wie man sie kaum je schreiben könnte. Bei der Premiere im vollen Landhaus wurde denn auch viel gelacht unter den Schutzmasken – das nicht immer behagliche Lachen von uns Privilegierten angesichts des eigentlich Unhaltbaren.

Ob der Regisseur seinem Personal letztlich doch nicht ganz zugetraut hat, diesen Film allein zu tragen? Die Auftritte von Corrado Pardini zwischen «Arena» und Albisgüetli wären jedenfalls nicht nötig gewesen. Die Idee leuchtet ein: Pardini, damals noch als Gewerkschaftsführer, stellt in seinen Reden die Problematik der Schwarzarbeit in einen grösseren Zusammenhang von Migrationspolitik und Rahmenabkommen. Dabei gehört es gerade zu den Stärken des Films, dass sich solche Zusammenhänge schon aus den Figuren erschliessen – etwa, wenn Frédy Geiser im Auto über die Scheinheiligkeit des Bauernverbands und seiner Agrargenossenschaft Fenaco sinniert.

So präzise und so lakonisch hat schon länger kein Film mehr das soziale Selbstverständnis der Schweiz auf die Probe gestellt. Im Vergleich dazu kam in Solothurn auch die «beste Armee der Welt» (U.  Maurer) ziemlich flach heraus, wie sie da so den Ernstfall im Kampf gegen antikapitalistischen Terror probt. «Lux» hiess jene gross angelegte Übung der Schweizer Armee im Herbst 2019, und so heisst nun auch der Dokumentarfilm von Raphaël Dubach und Mateo Ybarra, quasi die ethnografische Beobachtung eines absurden Theaters in Uniform. Das ist so staubtrocken, dass sich der militärische Leerlauf im Film gleichsam verdoppelt. Aber die eindringliche Warnung eines Offiziers vergisst man nicht so schnell, weil sie eigentlich alles sagt über die Festung namens Schweiz: Die Falltür im Wachturm immer schliessen, sonst fällt noch jemand runter!

Die Schweizer Filmpreise werden am 25. März 2022 in Zürich verliehen. «Schwarzarbeit» kommt voraussichtlich im April 2022 in die Kinos.