Anthroposophie: Kosmos, Kräfte, Kuhhörner

Nr. 8 –

Nicht erst seit Corona ist die Anthroposophie unter Linken hoch umstritten. Soll man sie vor allem an Rudolf Steiner und seinem Werk beurteilen? Oder mehr an Praxisfeldern wie Landwirtschaft und Pädagogik? Eine Spurensuche am Goetheanum, auf dem Demeter-Hof und in der Steinerschule.

Es ist so einfach, absurde Zitate zu finden.

«Die Sexualorgane sind untergehende Organe, dagegen ist der Kehlkopf in voller Umbildung begriffen, und wenn der Mensch wieder keusch geworden sein wird, wird sich der Kehlkopf der geistigen Sonne wieder zuwenden.» – «Die weisse Rasse ist die zukünftige, die am Geiste schaffende Rasse.» – «Im Beginne unserer Zeitrechnung sind zwei Jesus-Knaben geboren worden. (…) In dem salomonischen Jesus-Knaben, den das Matthäus-Evangelium schildert, inkarnierte sich dieselbe Individualität, die früher als Zarathustra auf der Erde gelebt hat.»

Das sind Zitate von Rudolf Steiner (1861–1925), dem Begründer der Anthroposophie. Das Urteil scheint klar: Der spinnt – und ist erst noch rassistisch. Und damit sind wohl auch alle diskreditiert, die sich auf ihn berufen – oder nicht berufen, aber Methoden anwenden, die auf die Anthroposophie zurückgehen. Wird diese simple Schlussfolgerung der Sache gerecht?

Für viele Linke ist Anthroposophie ein No-Go – wegen Rudolf Steiners Aussagen über «Wurzelrassen», für manche auch, weil sie Spiritualität grundsätzlich misstrauen. Gleichzeitig ist das grünalternative Milieu die Hauptkundschaft für anthroposophische Angebote – von Steinerschulen über Demeter-Lebensmittel bis zu Arzneien von Weleda. Mit Corona ist diese komplizierte Geschichte noch komplizierter geworden.

Auch die anthroposophische Szene reagiert nicht einheitlich auf die Pandemie. Dass die Impfskepsis deutlich höher als sonst in der Gesellschaft sei, sagen allerdings auch anthroposophienahe Kreise, etwa der Autor Wolfgang Müller in der Zeitschrift «Info 3». Dazu kommt oft ein Misstrauen gegenüber dem Staat und der «Staatsschule». In vielen Steinerschulen tobte der Streit um Masken und andere Massnahmen denn auch um einiges heftiger als in anderen Bildungsinstitutionen.

Was ist diese Anthroposophie, von der alle schon gehört haben, mit deren Grundlagen sich aber nur wenige beschäftigen? Wie lässt sich über sie ein Urteil bilden?


Das ist eine Kirche. Wenn man nicht wüsste, wo man ist, wäre das Urteil klar. Die hohen, farbigen Fenster, die Orgel, die Malereien an der Decke: Der grosse Saal des Goetheanums in Dornach bei Basel ist eindeutig ein sakraler Raum christlicher Prägung. Nur die Bilder passen nicht immer ganz: Engel sind da zwar, aber auch Figuren aus der griechischen Mythologie und dem alten Ägypten. Wie jede Woche findet auch an diesem Januarsamstag eine öffentliche Führung durch den Hauptsitz der Anthroposoph:innen statt. Durch dieses riesige Haus, von aussen eine Mischung aus Kathedrale und Bunker, gebaut aus Beton, lange bevor es üblich wurde, ihn in diesen Dimensionen zu verwenden.

Ein pensionierter Architekt, der zuvor am Goetheanum arbeitete, führt kompetent durch die Räume. Im Foyer erklärt er, wie Rudolf Steiner die Symmetrie des menschlichen Körpers auf die Architektur übertrug. Im monumentalen Sichtbetontreppenhaus erläutert er die Glasmalerei. Sie zeige «den Menschen als Entwicklungsgedanken der Götter»: «Jeder Mensch ist ein Individuum und hat ein anderes Entwicklungsziel.» Wer sich eingelesen hat, erkennt hier Kerngedanken der Anthroposophie: die Betonung des Individuums. Und eine Idee der «Höherentwicklung», die für fast alles gilt: Jeder Mensch müsse in seiner Kindheit und Jugend die ganze Menschheitsgeschichte durchleben, glaubte Steiner.

Das Goetheanum in Dornach, flankiert von Kühen, Kamille und Schafgarbe. Die beiden Pflanzen und die Hörner der Kühe gehören zu den Grundlagen der Präparate in der Demeter-Landwirtschaft.

Etwas vom Faszinierendsten dieser Führung verbirgt sich in der Schreinerei: ein begehbares Modell des ersten Goetheanums im Massstab 1:20. Jede Schnitzerei, jedes Glasfenster ist da rekonstruiert – mit einer Liebe zum Detail, die man in anthroposophischen Umgebungen oft antrifft. Das erste Goetheanum sah völlig anders aus als das jetzige: ein Holzbau mit zwei Kuppeln, von innen eine archaische Höhle. Es brannte ab, kaum war es gebaut, in der Silvesternacht 1922, fast sicher Brandstiftung. Die Dimensionen der beiden Häuser zeigen: Rudolf Steiner hatte am Ende seines Lebens viele reiche Unterstützer:innen. Er starb noch während der Bauarbeiten.

Auch Steiner ist ohne Widersprüche nicht zu verstehen. 1861 im heutigen Kroatien geboren, studiert er in Wien Mathematik und Naturwissenschaften, sympathisiert zeitweise mit dem Anarchismus, um dann in einem Christentum seiner eigenen Erfindung tief religiös zu werden. Eine Zeit lang will er Boden und Schlüsselindustrien vergesellschaften, gleichzeitig hat er viele adlige Anhänger:innen. Er glaubt an die «Sieghaftigkeit deutschen Lebens» und pflegt dauernd internationale Kontakte, sogar während des Ersten Weltkriegs. Er ist einer jüdischen Familie tief verbunden und schreibt Dinge, die nach heutiger Definition klar antisemitisch sind. Er lässt sich immer wieder von emanzipierten Frauen beeinflussen. Es gibt Gerüchte, er habe nie Sex gehabt. Er liebt Geometrie, glaubt an Karma und Wiedergeburt und beansprucht für sich hellseherische Fähigkeiten. Von der Erdgeschichte bis zur Jugend von Jesus Christus: Steiner weiss genau, wie sich das alles abgespielt hat. Die «geistige Welt» lasse sich wissenschaftlich erfahren und beschreiben – und man könne es lernen.

Obwohl die Anthroposophie manchen antimodernen Zug hat, ist sie in ihrem Individualismus ohne Moderne undenkbar: Steiner wächst in eine Epoche hinein, in der die Kirchen ihre umfassende Macht verlieren. Das Bürgertum lechzt nach neuen Lebensentwürfen, und Steiner schafft aus den vielen widersprüchlichen spirituellen Strömungen der Jahrhundertwende ein Angebot, das viele anspricht. Bis zu seinem Tod 1925 hält er fast 6000 Vorträge.

Auch das anthroposophische Milieu ist von Widersprüchen geprägt. Es gibt einen orthodoxen Kern um die Anthroposophische Gesellschaft, die ihren Sitz am Goetheanum hat. Dann gibt es Menschen, die sich intensiv mit Anthroposophie auseinandersetzen, sie aber freier interpretieren. Und es gibt den weitaus grössten Teil: alle, die der Anthroposophie irgendwie verbunden sind – in den von ihr geprägten Heimen arbeiten, ihre Kinder in Steinerschulen schicken, gute Erfahrungen mit der anthroposophischen Medizin gemacht haben oder auf den Feldern biodynamische Präparate anwenden. Diese Menschen, die oft gar nicht so viel über die Hintergründe wissen, prägen die Praxis inzwischen wohl stärker als die Orthodoxen, zahlenmässig sowieso. Was bedeutet das? Soll man die Anthroposophie allein von Steiner und Dornach her beurteilen – oder auch von den Spuren, die sie hinterlässt?


«Fühl mal, wie warm die Hörner sind!» Alexandra Maier steht im Stall bei Wanna. Dass die Fleckviehkuh nicht mehr die Jüngste ist, sieht man an den Hörnern: Für jedes Kalb, das sie auf die Welt gebracht hat, ist eine ringförmige Verdickung entstanden. «Sie ist bald elf und hat eine unglaubliche Vitalität», sagt die Landwirtin.

5 der 25 Milchkühe im Stall von Maier und ihrem Mann Martin Bigler sind über zehn Jahre alt. Viele brächten mit neun oder zehn die beste Milchleistung, sagt sie. Eine durchschnittliche Schweizer Milchkuh erreicht dieses Alter gar nie: Sie wird schon jünger geschlachtet, wegen Fruchtbarkeitsstörungen, Euterentzündungen oder anderer Gesundheitsprobleme. «Wir versuchen, den Kühen so gut zu schauen, dass sie gesund bleiben und alt werden», sagt Maier. «Wir haben sie sehr gern und arbeiten mit ihnen zusammen.»

Maier und Bigler führen einen Demeter-Hof oberhalb von Rubigen, auf der rechten Seite des Aaretals südlich von Bern. Hier ist das Land fast flach, bevor es gegen Osten Richtung Emmental ansteigt. Am Horizont leuchten Eiger, Mönch und Jungfrau. Maiers Dialekt ist immer noch anzuhören, dass sie im Südschwarzwald aufgewachsen ist. Als sie siebzehn war, stellten die Eltern ihren Hof von konventionell auf Demeter um. Das habe ihrem Vater eine neue Perspektive als Bauer ermöglicht: «In Deutschland gilt ‹Wachsen oder Weichen› noch viel stärker als in der Schweiz. Dank der Direktvermarktung der Demeter-Produkte konnte der Hof mit nur zwanzig Hektaren weiterleben.» Auch Alexandra lernte Landwirtin, später ging sie im Safiental z’Alp – und traf dort Martin, den Nachbarälpler. 2002 zog sie nach Rubigen, und die beiden stellten den Hof, der bereits biozertifiziert war, noch einmal um: auf Demeter.

Demeter ist Biolandbau mit einigen Besonderheiten. So dürfen Tiere nicht enthornt werden, und auch andere Richtlinien sind strenger, etwa zur Lebensmittelverarbeitung. Eine wichtige Rolle spielen die von Rudolf Steiner erfundenen Präparate: Kuhmist, Quarzmehl oder verschiedene Pflanzen werden, je nach Präparat in Kuhhörner oder andere tierische Hüllen gefüllt, ein halbes Jahr im Boden vergraben. Danach rührt man die einen in Wasser und spritzt sie auf die Felder, die anderen vermischt man mit dem Dünger. Sie sollen, wie es in einem Demeter-Buch heisst, «kosmische Kräfte auf die Erde binden».

Eurhythmie, die anthroposophische «Bewegungskunst», ist bis heute ein Pflichtfach in Steinerschulen. Hier abgebildet mit den Präparatepflanzen Brennnessel, Eiche und Löwenzahn.

Was schätzt Maier an der biodynamischen Landwirtschaft? «Ein grosses Interesse am Fragenstellen, die ganzheitliche Anschauungsweise und die Zuneigung zu allen Lebewesen. Ich nehme sie als eine sehr offene Form der Landwirtschaft wahr. Und die Leute, die ich darin getroffen habe, oft als sehr herzlich.» Nie würde sie ihre Tiere auf Leistungsmerkmale reduzieren: «Tiere sind beseelt, sie haben Bedürfnisse auf verschiedenen Ebenen.» Auch dass Kühe – und ihre Hörner – in der Demeter-Landwirtschaft eine ganz wichtige Rolle spielen, entspricht ihr. Der Mist ist ein wichtiger Dünger und wird immer kompostiert, bevor er ausgebracht wird. Das Forschungsinstitut für biologischen Landbau (FiBL) in Frick hat in einem Langzeitversuch nachgewiesen, dass die Demeter-Landwirtschaft das Bodenleben und die Bodenfruchtbarkeit tatsächlich optimal fördert.

Die Liebe zu den Kühen zeigt sich auch im modernen Laufstall mit Solardach. Die Kühe liegen weich und warm auf Kompost, gemischt mit Sägemehl. Die Kälber dürfen zweimal am Tag bei Ammenkühen direkt am Euter trinken – das entspricht ihrem natürlichen Verhalten und beugt Krankheiten vor (siehe WOZ Nr. 6/2019 ).

Sie bezeichne sich nicht als Anthroposophin, sagt Maier. Aber sie vertieft sich gern in Steiners Texte: «Manches finde ich unglaublich anregend, manches verstehe ich überhaupt nicht.» Steiner sei ein «Sehender» gewesen und habe ökologische Aspekte angesprochen, lange bevor es eine Umweltbewegung gab: «Er erkannte, wie wichtig die Insekten- und die Vogelwelt für die Landwirtschaft sind und dass Kunstdünger dem Boden und den Pflanzen schadet.»

Nach dem Stallbesuch schiebt sie eine Garette zu einem langen Komposthaufen und beginnt, biodynamische Kompostpräparate darin zu vergraben: alle zwei Meter eins, in einer bestimmten Reihenfolge. «Die Präparate geben einen Impuls, stossen eine Entwicklung an, die dann von selbst weitergeht.» Forschungen am FiBL konnten den Präparaten allein keine Wirkung auf Boden und Pflanze nachweisen. Aber diesbezüglich sei ihr Erfahrung wichtiger als wissenschaftliche Beweise, sagt Maier: «In den 35 Jahren, seit meine Eltern auf Demeter umgestellt haben, haben sie richtig gute Böden bekommen.»

Eine biodynamische Devise ist es, möglichst viele verschiedene Tierarten zu halten – jede bringe einen anderen Seelenanteil auf den Hof. «Ich kann kein Fleisch essen, wenn ich nicht weiss, wie das Tier gelebt hat und wie es geschlachtet wurde», sagt Maier. Ihr Mann sei beim Schlachten in der regionalen Metzgerei fast immer bis zum Bolzenschuss dabei: «Wir bleiben bis zum Schluss – damit die Kuh uns sieht und keine Angst hat. Das ist uns ein wichtiges Zeichen der Dankbarkeit.»


Nicht nur Wissen in den Kopf füllen, sondern sinnlich begreifen: Dieses Ziel ist an der Steinerschule Zürich überall sichtbar. Die detaillierte Wandtafelzeichnung in der ersten Klasse, die vielen Figuren überall, oft aus Wolle und Filz, oder die simple, doch raffinierte Rechenhilfe für die zweite Klasse: Die Ziffern Null bis Neun bilden einen Kreis aus Nägelchen auf einem Holzbrett; wer rechnet, verbindet sie mit Fäden, Sternmuster entstehen. «So sehen die Kinder, dass Mathematik auch mit Ästhetik zu tun hat», sagt Vera Wohlgemuth, die die Schule zusammen mit Jean-Claude Baudet und Birgit Purainer leitet. Den Kaninchenstall mit Auslauf im Garten haben die Drittklässler:innen selbst geschreinert, sogar die Stricknadeln werden selbst geschliffen. Vom Kindergarten bis zur dritten Klasse gehen alle jede Woche in den Wald, später kommt noch Gartenbau als Schulfach dazu.

Aus vielen Zimmern tönt Musik, auf dem Schulplatz unterhalten sich Jugendliche laut und ausgelassen. Hier an der Plattenstrasse in Zürich Hottingen können sie vom Kindergarten bis zur Sek die Steinerschule besuchen – und danach an der sogenannten Atelierschule noch weitermachen bis zur Matura. Einiges haben alle Steinerschulen gemeinsam, etwa den Unterricht in sogenannten Epochen: Ein Thema wird über mehrere Wochen vertieft. Eurhythmie, die steinersche «Bewegungskunst», ist ein Pflichtfach. Und statt Noten gibt es einen schriftlichen Bericht über jedes Kind.

Den Schulverleider hätten manche hier genauso, sagt Baudet: «Jugendliche haben oft so viele Fragen, die sie bedrängen – und erleben nicht selten in der Pubertät die Trennung der Eltern. Wie sollen sie da den Kopf frei haben, um kognitiv zu arbeiten?» Hier können sie auch einmal eine Weile zwei Tage in der Woche arbeiten gehen. Zum Beispiel in der anthroposophischen Bäckerei Vier Linden. «Das kann sehr guttun – rauskommen aus der Klassendynamik und merken: Ich werde gebraucht», sagt Baudet. Und der verpasste Stoff? «Ein Jugendlicher, der merkt, dass er lernen will, weil er jetzt weiss, warum, holt das schnell wieder auf.»

Das tönt alles sehr überzeugend – aber braucht es dafür Rudolf Steiner? Auf jeden Fall, sagt Purainer. «Wir versuchen, intensiv mit den Kindern in Beziehung zu treten. Es ist uns wichtig, an die Entwicklungsmöglichkeiten jedes Kindes zu glauben und ihm Zeit für diese Entwicklung zu lassen. Wenn es bis zur dritten Klasse Zeit braucht, um lesen zu lernen, ist das bei uns kein Problem.» Für all dies gebe ihnen Steiner wichtige Impulse.

Als Privatschulen erhalten die Steinerschulen in der Schweiz kein Geld vom Staat. Der Tarif, den die Eltern bezahlen, ist von ihrem Einkommen abhängig. Bei knappen Finanzen gebe es Möglichkeiten, Fonds und Stiftungen in Anspruch zu nehmen, sagt Baudet. «Alle, die wollen, sollen zu uns kommen können.»

Dolores Zoé Bertschinger erinnert sich gern an die Steinerschule. Sie schätzte das Handwerkliche und den Epochenunterricht: «Lange am gleichen Thema dranbleiben: Das habe ich dort gelernt. Es kam mir vor wie forschen gehen.» Sie besuchte in Adliswil die Steinerschule, dann hier an der Plattenstrasse die Atelierschule. Schon in der Primarschule physikalische Experimente detailliert beschreiben, sich wochenlang mit der Interpretation eines Romans befassen, eine Kleiderkollektion von A bis Z selber nähen, in der Kunstgeschichtsepoche zwei Wochen nach Florenz fahren: Die 33-Jährige denkt begeistert daran zurück. «Zum Epochenunterricht gehörte auch knallhart ein Monat Mathe oder Chemie – das hat mein Durchhaltevermögen gefördert.»

Auch die Eurhythmie gefiel ihr – obwohl die Schüler:innen gern darüber schimpften. «Irgendwann merkte ich, dass sie ein super Ausgleich zu den kompetitiven Sportarten ist.» Erst in der Oberstufe hatte sie Mühe, paradoxerweise wegen einer Lockerung: «Wir mussten die Eurhythmiegewänder nicht mehr anziehen. Bei mir führte das dazu, dass ich mich unsicherer fühlte, den Blicken der anderen ausgesetzt.»

Die Steinerschule sei «kein heiliger Ort» gewesen: «Auch wir prügelten uns auf dem Pausenplatz. Und in der Oberstufe gab es die üblichen Autoritätsprobleme, manche Lehrpersonen waren mit den pubertierenden Jugendlichen überfordert.» Dank einer Austauschschülerin lernte sie auch eine Steinerschule in Brasilien kennen. «Dort lebten die Familien eher wie eine Kommune um die Schule herum – die Idee der Lebensreform und des sozialen Ausgleichs war viel wichtiger. Dort merkte ich auch zum ersten Mal, dass Eurhythmie ein Tanz sein könnte …»

Bertschinger ist heute Religionswissenschaftlerin. Sie sagt, den Hintergrund ihrer Schule habe sie erst im Studium verstanden: «In der Schule kamen wir nicht mit Steiners Schriften in Berührung. Man überschätzt Steiner, wenn man die Steinerschulen auf ihn reduziert.»

Gespräche mit vier weiteren ehemaligen Steinerschüler:innen zeigen Gemeinsamkeiten: Die praktischen, musischen Fächer haben alle in guter Erinnerung. «Ich habe viel Selbstbewusstsein bekommen, das Gefühl, dass ich fast alles lernen kann – weil ich so viel ausprobieren durfte.» – «Ich lernte, dass ich die Welt gestalten kann.» – «In einer grossen Kirche die ‹Carmina Burana› aufführen war toll.» Es gibt jedoch auch Kritik. Eine Frau Anfang dreissig erinnert sich, der Sexualkundeunterricht sei jenseits gewesen: «Wir lernten Verhütung mit Temperatur messen!» Ein Exschüler hinterfragt den ganzheitlichen Ansatz der Steinerpädagogik auch grundsätzlich. Er sei als «der Störende» abgestempelt worden: «Man hat das Problem individualisiert und mich pathologisiert, statt die Klassendynamik und das Verhalten der Lehrperson zu hinterfragen.» Der fragwürdige Umgang mit einem übergriffigen Mitarbeiter im anthroposophisch geprägten Unternehmen Mitte in Basel (siehe WOZ Nr. 11/2021 ) habe ihn an seine Schulzeit erinnert: «Diese Idee: Wenn man nur genug lang miteinander redet, kann man jedes Problem in der anthroposophischen Welt lösen …»


Wenn Helmut Zander, Professor für Religionswissenschaft an der Universität Fribourg, durch Dornach geht, machen manche Anthroposoph:innen demonstrativ einen Bogen um ihn. Mit anderen, auch aus Dornach, verbringt er viele Stunden. Er habilitierte vor zwanzig Jahren zur Anthroposophie, gilt als einer ihrer wichtigsten unabhängigen Kenner:innen und äussert sich immer wieder pointiert dazu – was ihm manche sehr übel nehmen.

Eine Frage drängt sich auf: Liesse sich das Gute der anthroposophischen Praxis vom historischen Ballast trennen? «In der Praxis passiert das dauernd», betont Zander – und erzählt von einer Tagung über Demeter-Weinbau: «Etwa ein Drittel der anwesenden Winzer hatte null Bezug zu Steiner. Die wollen einfach guten Wein machen – und wenden die biodynamischen Präparate an, weil sie damit positive Erfahrungen gemacht haben.» An einem selektiven Umgang mit der Tradition sei an sich nichts auszusetzen: «Es gibt keine unschuldigen Kulturen. Wir können Johann Sebastian Bachs Kompositionen lieben, ohne die antijudaistischen Positionen in den vertonten Texten zu teilen.» Aber in der Anthroposophie gebe es eine «schwierige Grenze der selektiven Nutzung»: «Da findet ein aktiver Vergessens- und Verdrängungsprozess statt. Die anthroposophische Führungsriege hat sich bis heute nicht in allen Konsequenzen von den rassistischen Stellen in Steiners Werk distanziert. Weil man sich scheut, grundsätzlich zu diskutieren, dass er nicht immer recht hatte – dass also auch seine Einsichten, die man für übersinnlich hält, falsch sein könnten.»

Auf die Bitte, zu Zanders Vorwurf Stellung zu nehmen, verweist die Anthroposophische Gesellschaft auf ihren Text «Anthroposophie und Rassismus». Darin schreibt sie, dass sich «im monumentalen Werk Rudolf Steiners» nur sechzehn Zitate fänden, «die für sich genommen unter heutigen Gesichtspunkten als diskriminierend bezeichnet werden müssen», und betont die Bedeutung des Individuums in der Anthroposophie.

Was es im Detail heissen könnte, «das Gute zu nehmen und das Schlechte zu lassen», sei eine vertrackte Frage, sagt Zander. «Was hiesse Steiners Pädagogik ohne Esoterik – wie es an der anthroposophischen Hochschule in Alfter bei Bonn übrigens gefordert wird? Was ginge verloren?»

Diese Frage lässt sich auch für die Landwirtschaft stellen. Die besondere Sorgfalt im biodynamischen Landbau, die Ästhetik und die Vielfalt der Demeter-Höfe – das alles hängt eng mit anthroposophischem Gedankengut zusammen. «Anthroposophen entwickeln häufig eine hohe ästhetische Sensibilität und erkennen Dinge, die man ohne anthroposophische Vorbildung kaum entdeckt», schreibt Zander in «Die Anthroposophie». Und wer den Hof als Organismus betrachtet, geht anders mit ihm um als mit einem Produktionsfaktor. Offensichtlich helfen anthroposophische Praktiken manchen Menschen, sich konzentrierter, intensiver auf ihre Umgebung und andere Lebewesen einzulassen.


Was die Pandemie für die Zukunft der Anthroposophie bedeutet, ist noch nicht abzusehen. In Deutschland hat sie noch tiefere Gräben aufgerissen als in der Schweiz. Sie wisse nicht, ob sich die beiden Seiten wieder fänden, sagt eine Frau, die für einen deutschen Waldorfschulverband arbeitet. An ihrer Institution seien alle geimpft und hielten die Massnahmen ein, sie kenne aber auch Leute im Waldorfschulumfeld, die sich allen Massnahmen verweigerten und «den Aufstand organisieren» wollten. «Diskussionen sind äusserst schwierig. Wir haben unterschiedliche Vorstellungen davon, was Fakten sind.»

Dolores Zoé Bertschinger sagt: «Als abgeschlossenes Weltbild halte ich die Anthroposophie für problematisch. Aber wenn sie im Alltag ganz praktisch mit anderen Ideen, Institutionen und Lebensbereichen zusammenkommt, kann sie emanzipatorisch sein.»

Seine Anthroposophieforschung sei ein dauerndes «Ja, aber», sagt Helmut Zander. «Die Wirklichkeit funktioniert einfach nicht mit klaren Grenzen und binären Eindeutigkeiten. Ich muss die Anthroposophie nicht abschliessend gut oder schlecht beurteilen. Aber ich weiss, ich habe es da einfacher als Sie: Ich bin kein Journalist.»

Helmut Zanders Buch «Die Anthroposophie» (Brill/Schöningh, 2019) bietet eine sehr lesbare Einführung ins Thema. Lesenswerte kritische Biografien über Rudolf Steiner gibt es ebenfalls von Zander (Piper Verlag, 2016) und von Miriam Gebhardt (Pantheon Verlag, 2013). Relativ offene «interne» Auseinandersetzungen werden in der anthroposophischen Zeitschrift «Info 3» geführt. Der Text «Anthroposophie und Rassismus» findet sich unter goetheanum.ch/de/nachrichten/anthroposophie-und-rassismus .

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