Ausstellung: Menschenfreund in Algerien

Nr. 9 –

Als Henry Dunant 1887 im Appenzeller Kurort Heiden ankam, dachte die Welt, er sei längst tot. Er war vergessen, verarmt, auf der Flucht vor Gläubigern, geplagt von Ekzemen. 1901 erhielt Dunant zusammen mit dem Pazifisten Frédéric Passy den erstmalig verliehenen Friedensnobelpreis. Er blieb dann bis zu seinem Tod 1910 in Heiden, 1969 wurde dort ein Museum zu seinen Ehren eröffnet, das nun umgebaut wird. Die Wartezeit verkürzt man mit Ausstellungen.

Da ist zum einen die kompakt auf Litfasssäulen präsentierte historische Recherche zu Dunants Zeit in Algerien. Die erstaunliche Pointe: Ohne seinen Abstecher ins Kolonialgeschäft wäre das Rote Kreuz womöglich gar nie gegründet worden. Denn zu Dunants prägendem Schockerlebnis, der Begegnung mit Verwundeten auf dem Schlachtfeld von Solferino, kam es nur, weil er beim Kriegsherrn Napoleon III. um Geld für seine «Genfer Handelsgesellschaft der Schweizer Kolonien von Sétif» bitten wollte. Doch der Kaiser hatte Wichtigeres zu tun, als den klammen Geschäftsmann zu treffen. Dieser irrte übers Schlachtfeld, schrieb später, nachhaltig erschüttert, «Un souvenir de Solférino». Das Buch wurde zur Keimzelle für die Idee des Roten Kreuzes und der Genfer Konvention. Man verlässt die Ausstellung produktiv irritiert: In Dunant paarte sich offenbar ganz selbstverständlich eine grosse humanitäre Sensibilität gegenüber Soldatenleid mit ungerührter Blindheit angesichts von kolonialem Unrecht.

Als zeitgenössische Ergänzung wirft die Genfer Künstlerin Camille Kaiser ein Schlaglicht auf die eigene Familiengeschichte. Ihr Ausgangspunkt sind Briefe, die ihr Grossvater, der im postkolonialen Nordafrika als Landvermesser tätig war, an seine Frau schrieb. Auch weil der Grossvater umgekehrt die Briefe der Grossmutter nicht aufbewahrt hatte, offenbaren sich hier mehr atmosphärische Lücken als kohärente Biografien. Zwischen faszinierenden alten Briefmarken und verblichenen Postkartenlandschaften versucht Kaiser, den Zufall einer Begegnung zu rekonstruieren, ohne die sie nicht auf der Welt wäre. 

«Unternehmen Algerien» und Camille Kaisers «L’histoire commence ici» in Heiden, Dunant Plaza. Bis am 20. März 2022. www.dunant-museum.ch.