Kost und Logis: Panik und tausend Schwalben
Bettina Dyttrich sucht Verbündete bei Vögeln und Helen Macdonald
Frühe achtziger Jahre. Der Berner Psychiater und Schriftsteller Walter Vogt trifft bei seinem Ferienhaus am Murtensee einen Mann, der Vögel beobachtet. Das macht Vogt auch gern, also unterhalten sie sich über Vögel, und er stellt sich vor, wie genau jetzt, in diesem glücklichen Moment, ein Verantwortlicher der Atommächte den Knopf drückt und die Welt auslöscht.
Wie habt ihr das ausgehalten, über dreissig Jahre lang? Dieses Gefühl, dass alles von ein paar mehr oder auch weniger zurechnungsfähigen Männern abhängt? Wie lässt es sich darin leben, ohne abzustumpfen, aber auch ohne eine Angststörung zu entwickeln? Geht das überhaupt? Können wir das lernen?
Dieses Gefühl ist mir nicht neu. Die Frage, ob es einen gesunden Punkt zwischen Verdrängen und Panik gibt, verfolgte mich jahrelang, einfach ausgelöst von langsameren Katastrophen: dem Artensterben, dem Klima. «Bei Sonnenaufgang erhoben sich Tausende von Schwalben, zogen als breites Band auf den See hinaus», schrieb Walter Vogt. Und: «Ein Flug von über hundert Kuckucken auf einem Acker lässt einen schaudern.» Ich habe nie Tausende Schwalben gesehen, hundert Kuckucke schon gar nicht. Immerhin zwei Schwanzmeisen in den Weiden am Bach und ein Rotkehlchen auf dem Fenstersims. Ich mag simple Symbolik eigentlich nicht, aber in ihrer Verletzlichkeit erinnern mich Singvögel an beide Katastrophen, das Artensterben und den Krieg.
Wahrscheinlich schreibt niemand so schön, klug und differenziert über Vögel wie Helen Macdonald. Und niemand von den neuen «nature writers» grenzt sich so deutlich ab, wenn Naturbegeisterung reaktionär vereinnahmt wird. In ihrem bekanntesten Buch «H für Habicht» beschreibt sie ihre Irritation, als sie einem Mann beim Wandern von den Hirschen erzählt, die sie gerade beobachtet hat, und er antwortet: «Ist es nicht schön, dass es noch Dinge wie diese gibt, ein Stück gutes altes England trotz all dieser Migranten?» In ihrem letzten Buch «Abendflüge» wird sie noch deutlicher, schreibt gegen den Brexit-Rassismus an und kommt immer wieder auf Klassenfragen, etwa die Verachtung der Mittelklasse-Ornitholog:innen für bunt bemalte Nistkästen. Die Liebe zu konkreten Orten, ihren Ökosystemen und Lebewesen ist kein Nationalismus, sondern eine Voraussetzung, damit Umweltbewegungen Kraft entwickeln können.
Ich liebe Macdonald auch, weil sie so offensichtlich ein Nerd ist – und Nerds waren in meiner Jugend fast immer männlich. Ein Kind, das mitten im Turnen davonrannte, um einen Vogel zu bestimmen, eine Erwachsene, die sich lange eher bei Habichten und Falken zu Hause fühlte als unter Menschen. Und jetzt zeigt sich plötzlich, wie viele Leser:innen sie genau mit dieser besonderen Sichtweise berührt. Als hätte sie unter Vögeln gelebt, damit wir sie jetzt auch verstehen.
Auch wenn es eine Projektion ist: Für mich sind Vögel und Pazifist:innen Verbündete.
Bettina Dyttrich ist WOZ-Redaktorin. Helen Macdonald identifiziert sich als nonbinär, ist aber laut ihrem Twitter-Account mit dem Pronomen «sie» einverstanden.