Helen Macdonald: «Spinnen sind genauso wild und faszinierend wie Löwen»

Nr. 23 –

Die britische Vogelexpertin Helen Macdonald erzählt, warum sie während der Pandemie kaum spazieren gegangen ist, dass zwei boxende Hasen nicht immer um ein Weibchen kämpfen und weshalb Menschen als Hauptdarsteller ausgedient haben.

Was hat die Fischkrähe da zu schimpfen? Egal was sie will, wir BetrachterInnen sind kaum gemeint. Foto: Keith Draycott, Getty

WOZ: Helen Macdonald, Ihr neues Buch «Abendflüge» beschäftigt sich mit dem Staunen. Haben wir diese Eigenschaft verlernt?
Helen Macdonald: Wir blicken auf die Natur oft wie auf ein Gemälde. Oder etwas, das wir auf unseren Bildschirmen betrachten. Ich hoffe, dass mein Buch wie eine Wunderkammer wirkt, dass es die Augen öffnet für die komplexe Schönheit der Natur. Man muss sich auf sie einlassen. Und nicht immer gleich alles auf sich selbst beziehen. Es fällt schon auf, wenn man diese Naturfilme im Fernsehen sieht: Ein Löwenrudel in Afrika verhält sich da wie eine typische Mittelklassefamilie. Wir sind so egozentrisch, wir sehen uns in der Natur immer nur gespiegelt.

Sie beschreiben zwei Hasen, die kämpfen. Und wir glauben, sofort zu wissen, was da vorgeht.
Wir projizieren einfach unendlich viel. Wir sehen zwei Hasen auf den Hinterpfoten, die gegeneinander boxen, und sofort denken wir: Das sind zwei dominante Männchen, die um ein Weibchen kämpfen. Aber meist ist es einfach ein Weibchen, das sich gegen sexuelle Avancen wehrt. Es ist eine andere Geschichte, die auch viel mit uns zu tun haben könnte. Aber wir möchten dieses Narrativ nicht sehen. Ein anderes Beispiel sind Delfine. In den fünfziger und sechziger Jahren gab es viele Untersuchungen darüber, wie Delfine sich benehmen. Man wollte etwas über die Intelligenz und das Sozialverhalten dieser Tiere wissen. Die aggressive sexuelle Seite der Delfine wurde lieber ausgeblendet. Sie passte nicht ins Bild, das wir uns von den Tieren gemacht hatten.

In der Pandemie sind die Menschen zwangsläufig viel spazieren gegangen. Glauben Sie, das hat unser Verhältnis zur Natur verändert?
Ich muss etwas beichten: Ich habe die Pandemie fast nur daheim verbracht. Viele haben ihre Umwelt erkundet, waren mehr draussen als sonst. Ich habe ferngeschaut. Also nicht gerade das, was man von einer Autorin, die über Natur schreibt, erwarten würde. Aber vieles kam mir in dieser Zeit auch wie in einem Hollywoodfilm vor. Gerade am Anfang der Pandemie gab es Geschichten darüber, wie schnell sich die Natur erholt. Wie sie heilt, jetzt, wo die Menschen weg sind. Das ist mitunter sogar in eine Verschwörungstheorie gekippt, dass es eine neue Geburtenkontrolle geben soll, dass uns das Virus gezielt ausrotten soll. Das hat mich sehr irritiert.

Aber es gab auch Positives: In den sozialen Medien haben viele Menschen ihre Liebe zu Vögeln dokumentiert.
Absolut. Das Schöne war die Erkenntnis: Man kann sich überall mit der Natur auseinandersetzen und verbinden. Man muss dazu keinesfalls wie ich in einer ländlichen Gegend wohnen, in der privilegierten Situation sein, dass man nur die Tür aufzumachen braucht, und schon steht man im Wald. Man kann auch vom Balkon aus die Tauben beobachten. Oder auch die Spinnen in der Wohnung. Ich bin eine schlechte Hausfrau, ich habe viele Spinnen in meiner Küche. Die sind genauso wild und faszinierend wie Löwen, wenn man sich näher mit ihnen beschäftigt. Die Natur ist ständig um uns. Es ist wichtig, sich daran zu erinnern, dass die Welt nicht nur für uns da ist.

Helen Macdonald

Auf Instagram sieht man auffallend viele Bilder von Krähen und Raben. Können Sie diese Begeisterung nachvollziehen?
Ich liebe Raben! Ich habe diese schreckliche Angewohnheit, wenn ich einen Raben über mir fliegen sehe, dass ich ihn rufe. Ich imitiere seine Art. Oft drehen sich die Vögel dann um und schauen mich an. Man sieht das Staunen in ihren Gesichtern: Was macht sie da? Ich habe einfach immer dieses Bedürfnis, die Grenze zu überschreiten, die Tiere und Menschen trennt. Mit ihnen zu kommunizieren.

Krähen und Raben gelten als besonders intelligent
Ja, das sind phänomenal interessante Kreaturen. In einer meiner liebsten Geschichten über die Natur kommt ein Rabe vor. Sie hat sich tatsächlich so zugetragen. Da war eine Frau in Colorado, die eine Hütte in den Bergen hatte. Plötzlich stand ein Rabe sehr nahe vor ihr und rief laut. Sie wusste zuerst nicht, was er von ihr wollte. Dachte, dass er versuchte, sie zu warnen. Als sie sich umdrehte, sah sie einen Berglöwen, der gerade zum Sprung ansetzte. Die Frau rannte ins Haus zurück – und war dem Raben sehr dankbar. Als sie dieses Erlebnis einem Rabenexperten erzählte, meinte dieser nur: Der Rabe wollte dich ablenken, damit der Berglöwe besser angreifen kann; wenn er dich getötet hätte, wäre auch für den Raben Nahrung abgefallen. Mir gefällt diese Geschichte auch deshalb, weil sie einmal mehr verdeutlicht: Wir glauben immer, dass wir die Helden der Geschichte sind. Aber oft sind wir einfach nur Nebenfiguren.

Haben Sie sich schon immer für Vögel interessiert?
Ich weiss gar nicht mehr, wann das angefangen hat. Wenn ich als Kind schlafen gegangen bin und meine Augen zugemacht habe, habe ich Vögel gesehen. Eine frühe Obsession, die vielleicht auch damit zu tun hat, dass ich einen Zwillingsbruder verloren habe. Dieser Verlust hat mich stark geprägt, ich habe die andere, fehlende Hälfte von mir gesucht und fand sie in Vögeln. Als Kind hatte ich diese Ferngläser aus der DDR, sie waren total schwer. Ich habe Vögel damals gestalkt. Und ich hatte diesen Trick: Wenn ich lange genug konzentriert auf sie schaue, dann verschwinde ich. Ich dachte, ich verwandle mich in einen Vogel.

Das klingt, als ob Sie nicht sonderlich viele menschliche Freunde in der Schule gehabt hätten.
Ich war ein eher seltsames Kind, fand es schwierig, mich an soziale Normen anzupassen. Zu verstehen, was von mir erwartet wird. Ich wurde oft gehänselt in der Schule. Ich habe nie die richtigen Schuhe getragen, wusste nichts mit Make-up anzufangen, war nicht genderkonform. Als Kind waren Vögel eine Obsession, als Teenager eine Fluchtmöglichkeit. Ich denke nicht, dass ich einsam war. Ich war gern allein und fühlte mich unter Tieren wie unter Freunden. Das war ein sehr kindlicher Zugang, die Natur wahrzunehmen. Aber für mich hat es sich wie Schule angefühlt, mit Freunden, die einen nicht hänseln.

Sie haben als Kind Vogelnester gesammelt, Tiere heimgeschleppt. Ist das nicht auch schwierig, weil man sie aus ihrem natürlichen Umfeld entfernt?
Je älter man wird, desto besser erkennt man, dass es nicht darum geht, Dinge zu besitzen. Auch unser narrativer Zugriff auf die Natur ist von Dominanz und Zerstörung geprägt. Es ist schwer, über die Natur zu schreiben, ohne das zu thematisieren. Die amerikanische Pflanzenexpertin Robin Wall Kimmerer hat in ihrem Buch «Braiding Sweetgrass» gefragt: Wäre es möglich, dass die Welt uns zurückliebt? Das hat mir die Augen geöffnet. Diese Möglichkeit, dass uns die Welt noch immer liebt, nach allem, was wir ihr angetan haben. Das hat mich umgehauen. Es beschäftigt mich noch immer sehr.

Sie schreiben, dass Sie oft weinen, wenn eine Naturerfahrung ergreifend ist. Schwingt da auch ein Stück Trauer mit, weil viele Tiere vom Aussterben bedroht sind?
Als Naturforscherin lebt man in einer Welt voller Wunden. Je mehr man weiss, desto deprimierender kann es sein. Ich denke, es gibt Liebe und Trauer zur selben Zeit. Viele Naturautorinnen und -autoren sind so wie ich Zeuge dessen, was gerade passiert. Wir erinnern daran, was verloren gegangen ist, was noch da ist. Das ist manchmal schwer auszuhalten, aber wir müssen hoffnungsvoll bleiben. Wir müssen einen Raum öffnen für Möglichkeiten. «Abendflüge» ist politischer als meine bisherigen Bücher. Ich möchte dazu ermutigen, dass wir unsere Stimmen erheben, um etwas zu verbessern. Aber, Moment: Haben Sie dieses Geräusch gehört?

Da klopft jemand ans Fenster.
Ja, das ist ein Fasan, der vor meinem Küchenfenster steht. Wegen der Pandemie gab es heuer keine Jagd auf Fasane. Draussen sieht es aus wie auf einer Hühnerfarm, Tausende Fasane laufen frei herum. Ich füttere einen, der bei mir im Garten ist. Aber anscheinend wurde er jetzt von einem anderen Fasan verdrängt, der sehr glamourös ist. Ich frage mich nur, was wohl mit dem anderen passiert ist. Es ist verrückt, es ist nur ein Fasan. Aber sobald du ihn individualisierst, wird er sehr speziell.

Mit unseren Haustieren machen wir das, mit Nutztieren nicht.
Es ist unmöglich, nicht verlogen zu sein. Ich liebe meine Fasane, aber ich habe sie auch schon gejagt. Man muss mit diesen Widersprüchen leben. Ich esse inzwischen wieder Fleisch, aber ich achte sehr genau darauf, woher es kommt. Als Vegetarierin habe ich mich sehr ungesund ernährt, vor allem von Käse und Brot. Durchs Leben zu gehen, ist voller Fallen. Man muss wach bleiben, die Komplexität akzeptieren. Ich hatte lange ein Habichtweibchen, darüber habe ich auch ein Buch geschrieben. Wenn ich mit ihr jagen war, haben wir uns manchmal einen Hasen geteilt. Sie hat ihn roh gegessen, ich gekocht. Darüber musste ich mit einer Freundin lange diskutieren, sie verstand das einfach nicht.

Sie haben auch einen Papagei. Wie geht es dem?
Der ist leider im Januar mit achtzehn Jahren gestorben. Es war grauenhaft. Er hat zuerst an Farbe verloren, in der Nacht war er plötzlich verwirrt und traurig. Er hatte sichtlich Schmerzen. Ich wusste, er überlebt es nicht, wenn ich ihn zum Arzt bringe. So habe ich ihn gehalten, er ist in meinen Händen gestorben. Ich habe danach tagelang geweint. Ich vermisse ihn noch immer sehr. Manchmal denke ich, er sitzt im Türeingang.

Werden Sie über ihn schreiben?
Im Moment schaffe ich es leider nicht. Ich habe Hunderte von Videos, die ich mir noch nicht anschauen kann. Aber es wäre ein spannendes Thema. Papageien sind faszinierend, sie sind anhänglicher als Hunde. Und absolute Individuen.

Helen Macdonald

«Über Natur zu schreiben, bedeutet, dass man sich einer anhaltenden Trauer aussetzen muss.» So umreisst Helen Macdonald (51) den am Schreibtisch verbrachten Teil ihrer Arbeit als Naturkundlerin. Die Schriftstellerin, Historikerin und Naturforscherin am Institut für Geschichte und Philosophie der Universität Cambridge hat ein besonders inniges Verhältnis zu Vögeln, die für sie zu Gefährten und Familienmitgliedern werden. Für ihren Bestseller «H wie Habicht» hat Macdonald 2014 den renommierten Samuel-Johnson-Preis gewonnen. Soeben ist ihr neues Buch «Abendflüge» erschienen. Sie lebt im Dorf Hawkedon (Falkenhügel) in der Grafschaft Suffolk an der englischen Ostküste.

Helen Macdonald: «Abendflüge». Hanser Verlag, München 2021. 352 Seiten. 38 Franken.