Ein Ukrainer in der Schweiz: «Europas Schicksal wird gerade entschieden»

Nr. 10 –

Was Stepan Schachno jetzt vom Bundesrat erwartet.

Stepan Schachno

Mir geht es nicht gut. Ich bin innerlich verwirrt und habe die ganze Zeit das Gefühl, der Zeit hinterherzulaufen. Ständig schaue ich Nachrichten und in sozialen Netzwerken, was gerade geschieht. Es ist schlimm, live mit anzusehen, wie Wohnviertel etwa in Kiew und Charkiw zerstört werden.

Seit Monaten hatte ich das Gefühl, dass ein Krieg beginnen würde. Aber meine Freund:innen und Verwandten in der Ukraine wollten das nicht glauben. Als ich noch kürzlich in Lwiw war, haben sie ganz normal weitergelebt, was ich auch verstehen kann: So ein Massenmord im 21. Jahrhundert mitten in Europa ist schwer vorstellbar.

Meine Eltern sind am ersten Tag der Bombardierung aus Lwiw losgefahren, mit meinen zwei Cousinen und deren Kindern. Insgesamt sechs Personen – jetzt leben sie bei mir. Sie haben einfach alles in ihrer Heimat zurückgelassen und sind mit kleinem Gepäck hier angekommen. Während sie unterwegs waren, hatte ich die ganze Zeit Angst, dass die Autokolonnen an der Grenze bombardiert oder meine Eltern einen Schlag- oder Herzanfall erleiden würden. Wir müssen jetzt schauen, was der Schutzstatus S bedeutet; noch fehlt es mir an einer klaren Verfahrenserklärung durch die Politik. Jetzt fahre ich sie regelmässig in die Berge, damit sie dem Nachrichtenstress entkommen können. Wir haben noch mehr Verwandte in der Ukraine, die aber mit einer Flucht zögern. Vor allem die Frauen wollen den Männern helfen und ihre Eltern nicht alleine lassen. Wenn es noch gefährlicher wird, dann sollen sie zu uns kommen.

Die anfängliche Haltung des Bundesrats hat mich empört. Sich hinter der Neutralität zu verstecken und als möglicher Vermittler anzubieten, ist völliger Quatsch. Wladimir Putin hat mehrfach gezeigt, dass jegliche Abmachungen von russischer Seite nicht eingehalten werden. Mit dem «Ukrainischen Verein in der Schweiz» versuchen wir nonstop, Hilfe zu organisieren, sammeln Spenden für die Armee und humanitäre Güter und organisieren Demonstrationen. Die Hilfsbereitschaft der Zivilbevölkerung ist gross, aber die Regierung macht nicht genug. Die ukrainischen Streitkräfte brauchen nicht nur Geld, sondern auch materielle Hilfe wie Waffen, Helme und schusssichere Westen.

Wenn Kiew fallen sollte, dann wäre das eine humanitäre Katastrophe. Neutralität ist nicht mehr möglich, denn das Schicksal Europas wird gerade entschieden. Wenn die Ukraine fällt, wird Putin ein Land nach dem anderen angreifen.

Stepan Schachno (37) lebt in Walchwil. Er ist Projektleiter für internationale Klimaschutzprojekte.