Theater: «Der Weg raus wird ein steiniger sein»

Nr. 11 –

Wer darf für wen sprechen? Wer besucht warum eine Schauspielschule? Regisseur Rafael Sanchez über die langsame Reaktion des Theaters auf gesellschaftliche Veränderungen. Und über ungenutzte Möglichkeiten.

Rafael Sanchez

WOZ: Rafael Sanchez, vor kurzem schrieben wir in der WOZ, Sie hätten vor zehn Jahren bei der Inszenierung des Stücks «Clybourne Park» des US-amerikanischen Autors Bruce Norris «blackfacing» betrieben, also die Rolle der Schwarzen weiblichen Figur mit einer schwarz angemalten weissen Schauspielerin besetzt. Das stimmt aber nicht: Sie besetzten die Rolle der im Stück Schwarzen Protagonistin mit einer weissen Schauspielerin. Der Autor Bruce Norris verbot die Aufführung. Warum?
Rafael Sanchez: Ich finde, er hat das Stück völlig zu Recht verboten, das hatte ich damals schliesslich auch verstanden. Er wollte, dass die Rollen der beiden Schwarzen Protagonist:innen zwingend mit zwei Schwarzen Schauspieler:innen besetzt werden.

Sie haben das Paar aber mit einem Schwarzen Schauspieler und einer weissen Schauspielerin gecastet. Warum?
Meine Überlegungen damals waren sehr einfach und vielleicht auch absurd: Ich wollte das Stück, das vom Rassismus handelt, der einem Schwarzen Paar in den USA widerfährt, nicht einfach eins zu eins von Nordamerika nach Europa versetzen. Die Idee war, es in einen spezifisch europäischen Kontext zu stellen und somit das Problem näher hierherzuholen. In Deutschland hast du, wenn du einen türkischen Nachnamen oder einen Nachnamen mit -ic hast, grosse Schwierigkeiten, einen Job oder eine Wohnung zu finden. Davon wollte ich in meiner Inszenierung erzählen.

Doch das Problem beim Theater ist: Man sucht sich Stücke, deren Probleme man nicht lösen kann, weil diese grösser sind, als sie im ersten Moment scheinen.

Wie meinen Sie das?
Es fing ja damit an, dass wir keine Schwarzen Schauspieler:innen im Ensemble des Deutschen Theaters in Berlin hatten. Also mussten wir extra casten – und da würden bei mir heute wohl die Alarmglocken läuten. Wir haben den Schauspieler primär nach Hautfarbe gesucht – was rückblickend superpeinlich ist.

Kurz nach diesem Intermezzo kam es im selben Theater während der Aufführung des Stücks «Unschuld» zu Protesten im Publikum, weil zwei Schauspieler tatsächlich ihre Gesichter schwarz angemalt hatten.
Ich erinnere mich nur noch vage daran, aber das war das Stück, wo sie nach Protesten im Publikum die Gesichter der beiden Schauspieler, die Geflüchtete spielten, dann weiss statt schwarz anmalten … Es ist zum Verzweifeln, denn das ist ja auch nicht die Lösung.

Was wäre die Lösung?
Das Problem ist, dass man sich auch beim Theater nach wie vor weigert, sich grundsätzlich zu überlegen, warum man bestimmte Gruppen ausschliesst. Natürlich bin ich der Meinung, dass grundsätzlich alle alles spielen können sollten – auch eine Schwarze Frau Hamlet. Doch so zu tun, als wäre heute tatsächlich alles möglich, ist genauso absurd wie die Behauptung, man dürfe heutzutage ja nichts mehr sagen. Das ist eine völlige Opferumkehrung: Alle dürfen alles sagen – doch ungefähr achtzig Prozent der Gesellschaft wurde bis jetzt einfach nicht gehört.

Aber was wäre denn Ihr Vorschlag?
Ich finde diese vermeintlich «radikalen» Vorschläge gut. Zum Beispiel wenn gefordert wird, nur noch Schwarze sollen Gedichte von Schwarzen übersetzen, oder wenn Gruppen nur noch Theater von und für People of Color machen sollen, das soll man unbedingt machen, solange es das braucht. Denn was die gesellschaftlichen Veränderungen angeht, geht es derart langsam vorwärts im Theater – obwohl man auf der Bühne dauernd über gesellschaftliche und zwischenmenschliche Probleme redet.

Zurzeit läuft im Theater Köln das von Ihnen inszenierte Stück «Ode» von Thomas Melle, in dem es genau um diese Thematik geht.
Das Stück dreht sich um die Fragen, was Kunst machen, wer für wen sprechen und wer zum Beispiel eine Putzfrau spielen darf. Melle nutzt den Humor, um uns zu zeigen, was passiert, wenn wir uns den Diskurs von rechts kapern lassen. In der Inszenierung zeigen wir, wie lächerlich es ist, an alten, verkrusteten Positionen festzuhalten, und wie einfach es eigentlich sein könnte, diese zu durchbrechen.

Die Schauspielschulen haben eine wichtige Gatekeeper-Funktion. Was hat sich da verändert?
Sehr viel – die Schulen müssen unter anderem auf Diversität schauen, weil das wiederum von den Theatern verlangt wird. Ich wollte ja einst Schauspieler werden. Nach der Aufnahmeprüfung an der Schauspielschule Bern sagte mir die Jury zur Begründung der Absage, sie hätten schon einen Latino an der Schule. Ich habe mir damals absolut keine Gedanken über diese Aussage gemacht – und ich erzähle das auch heute ohne Groll. Fast dreissig Jahre später könnte das zum Glück keine Schule mehr sagen.

Dazu ein aktuelles positives Beispiel: Der Schauspieler Kei Muramoto aus unserem Ensemble ist vor sechs Jahren aus Japan nach Deutschland gekommen. Deutsch hat er an der Schauspielschule gelernt. Das wäre vor zehn Jahren noch unmöglich gewesen, da hätte man gesagt, du wirst nie perfekt Bühnendeutsch lernen, du musst zu Hause bleiben.

Das Problem fängt jedoch noch früher an: Wer kommt warum überhaupt auf die Idee, eine Schauspielschule zu besuchen, und wer nicht?
Schauspielschulen sind immer noch ein schwer zugänglicher Ort. Besonders für People of Color oder trans Menschen, die bereits im Alltag gegen viele Widerstände kämpfen müssen. Natürlich ist es auch eine Klassenfrage, ob man auf die Idee kommt, diese Ausbildung zu machen. Heute wird in der Schweiz für die Schauspielausbildung die Matura verlangt … Doch die junge Generation ist so viel schneller und besser informiert, als wir das waren, und sie stellen andere Ansprüche, an die Schulen, die Theaterhäuser oder die Professor:innen – diese müssen sich somit zwingend selber à jour halten.

Was sind denn in diesem Zusammenhang die Möglichkeiten oder die Macht des Theaters?
Das Problem ist, dass Theater langsam sind – oder zumindest nicht schneller als andere –, was gesellschaftliche Veränderungen angeht. Somit versucht man, dem Zeitgeist hinterherzuhecheln, um modisch zu sein. Meine Inszenierung vor zehn Jahren ist ein gutes Beispiel: Man möchte ein superkorrektes antirassistisches Theater machen und merkt plötzlich: Ui, wir haben gar keine Schwarzen Schauspieler:innen. Das bedeutet doch, dass das Problem viel tiefer sitzt. Die Absichten waren gut, die Umsetzung weniger.

Also was tun?
Wir müssen nachhaltig etwas ändern. Und wenn ich sehe, was sich in den letzten Jahren verändert hat, besteht schon Hoffnung. Auch wenn der Weg raus ein steiniger sein wird und ganz vieles noch nicht geklärt ist. Nicht nur was die Hautfarbe oder die Nachnamen der Theaterschaffenden angeht, auch der Alterssexismus im Theater ist gigantisch. Mir fallen zum Beispiel keine Theaterregisseurinnen ein, die über sechzig sind!

Und ich glaube, am Ende ist es gar nicht so wichtig, was man spielt, sondern wer erzählen darf. Der Zugang zu dieser Perspektive muss unbedingt möglichst breit gehalten werden. Das ist die Aufgabe des Theaters.

Rafael Sanchez (47) ist Hausregisseur am Theater Köln. Zuvor hat er mit Barbara Weber das Zürcher Theater Neumarkt geleitet und am Theater Basel gearbeitet.