Von oben herab: Why?

Nr. 11 –

Stefan Gärtner hasst den Krieg, Heuchelei aber auch

Diese Kolumne schreibe ich nicht erst seit gestern, und trotzdem hat die Karte, die ich von der Schweiz im Kopf habe, noch immer weisse Flecken. Müsste ich, was ich niemals täte, an einer Strassenumfrage teilnehmen und würde gebeten, alle Mitglieder des Schweizer Bundesrates aufzusagen, müsste ich meine Verlegenheit durch souveränes Witzeln überspielen («Ernst Blocher und Guy Parmesan?»). Ich weiss, was die Schweiz betrifft, gewiss nicht nichts, aber sehr vieles nur halb.

Der Walliser Exstaatsrat und Zopfträger Oskar Freysinger zum Beispiel ist für mich der mit der Reichskriegsflagge, von der er sagt, er habe sie bloss «aus ästhetischen Gründen» bei sich zu Hause aufgehängt. Was er sonst so treibt, muss ich bei Wikipedia nachlesen oder mir von meinem Führungsredaktor vorlegen lassen, etwa die Kolumne im «Walliser Boten», wo der Ästhet jetzt wichtige Fragen stellte: «Die WHO plant, die Ablenkung durch den Ukraine-Konflikt ausnützend, ein planetarisches Covid-Zertifikat einzuführen. Warum das, wo doch das Virus selbst, über Omicron – wie sogar Bill Gates zugegeben hat –, die Rolle des Impfstoffs übernommen hat, und das wirksamer als Pfizer und Moderna?» Weiter ging es um «massive Wahlfälschungen bei den amerikanischen Präsidentschaftswahlen» («Werden die Demokraten in den Herbstwahlen tatsächlich ein Stalingrad erleben?»), und schliesslich: «Werden im weiteren Verlauf des Ukraine-Konflikts unwiderlegbare Beweise zu gravierenden Interessenkonflikten der Bidens im Rahmen ihrer ukrainischen Umtriebe ans Licht kommen?»

Ich war schon drauf und dran, diesen Stil hier einfach zu parodieren – «Putin hat, sagen Insider, ein kleines Glied. Musste er deshalb ‹in› die (!) Ukraine?» –, dann überwog aber doch das professionelle Interesse, Freysinger und ich sind ja, ob es mir nun passt oder nicht, Kollegen. Und da ist es nun keine schlechte Methode, die Zeilen einfach mit mehr oder minder steilen Fragen vollzumalen; denn Fragen, die haben wir doch alle, auch wenn häufig so getan wird, als seien die Antworten klar. Und zwar nicht nur von den Freundinnen und Freunden der Verschwörungstheoretik.

Im deutschen Fernsehen etwa wird über das, was Freysinger einen «Konflikt» nennt, mit einem Abscheu berichtet, als sei Krieg doch eigentlich die degoutante Folklore zurückgebliebener Volksstämme in fernen, nichtweissen Weltgegenden. Im zivilen, Waffen bloss exportierenden Europa ist Krieg folgerichtig «Wahnsinn», und die Erörterungen sind naturgemäss psychologischer Natur. Nun könnte man finden, dass es ein Fortschritt sei, wenn das Fernsehen verlernt hat, dass Krieg mal als Fortsetzung der Politik mit anderen Mitteln galt; man könnte aber genauso finden, dass Fragen nie schaden und die Popularität der Verschwörungserzählungen nicht nur mit der Sehnsucht nach einfachen Antworten zu tun hat, sondern auch damit, dass nicht mehr gefragt wird. Z. B. warum der freie hegemoniale Westen jetzt plötzlich Friedensmacht ist; ob es, weil nichts normaler ist als ein Interesse, in der Ukraine auch westliche Interessen, wirtschaftliche und militärische, sofern das nicht aufs Gleiche hinausläuft, gab und gibt; und ob, wenn Interessen von Grossmächten zusammenstossen, die eine Grossmacht gleich als Samariterin gelten muss.

Aber gefragt, wie gesagt, wird nicht, weil Partei wider das so offensichtlich Böse zu ergreifen das unwiderleglich Gute sein muss. Deshalb darf das Völkerrecht nur der Westen brechen, unter dessen Bombardement die zivile Infrastruktur von Belgrad verdientermassen gelitten hat. «Dass du paranoid bist, heisst nicht, dass sie dich nicht verfolgen», lautet die bekannte Weisheit; und dass Freysinger und Konsorten planetarische Quatschköpfe sind, heisst nicht, dass Fragen nach westlichen Umtrieben weniger erlaubt sein dürfen als die nach Putins Geisteszustand.

Stefan Gärtner (BRD) war Redaktor bei der «Titanic» und ist heute Schriftsteller und «linksradikaler Satiriker» («Die Zeit»). An dieser Stelle nimmt er jede zweite Woche das Geschehen in der Schweiz unter die Lupe.

Sein Buch «Terrorsprache» ist im WOZ-Shop erhältlich unter www.woz.ch/shop/buecher.