Asylanwältin auf Lesbos: Juristische Fachkenntnisse als Waffe
Ariel Ricker kennt das griechische Asylgesetz in- und auswendig. Nur so kann sie den geflüchteten Menschen helfen, die auf der ägäischen Insel Lesbos festsitzen.
Den ursprünglichen Gesprächstermin muss Ariel Ricker kurzfristig absagen – ein juristischer Notfall im Camp. Später treffen wir uns in einem Café am Hafen Mytilinis. TouristInnengruppen flanieren vorbei, dahinter ankern die Boote der EU-Grenzschutzagentur Frontex.
Der Versuch, ein Gespräch mit Ricker mitzuschreiben, ist zwecklos. Sie hat wenig Zeit und viel zu erzählen. Seit drei Jahren gibt die Hawaiianerin Menschen auf der Flucht gratis juristischen Rat. Anfang 2016 hat sie Advocates Abroad ins Leben gerufen, ein Netz ehrenamtlicher JuristInnen, die in Europa und der Türkei arbeiten. Es besteht mehrheitlich aus Frauen, denn «die sind sich gewohnt, harte Arbeit ohne Bezahlung zu machen», meint Ricker.
Ein schwarzes Loch mit Folgen
Die griechische Insel Lesbos nahe der türkischen Küste ist für viele Geflüchtete die erste Station in Europa. Im März 2016 wurde der Deal zwischen der Türkei und der EU abgeschlossen. AsylbewerberInnen konnten so einfacher von den Ägäischen Inseln in die Türkei abgeschoben werden. Seither wird bei jedem und jeder AsylbewerberIn auf den Inseln in einem ersten Interview festgestellt, ob Griechenland für den Fall zuständig ist oder ob sich die Türkei darum kümmern kann, weil sie für die Person als «sicheres Drittland» gilt. Meist wird Letzteres entschieden. Bis zur Entscheidung sitzen die AsylbewerberInnen fest – einige seit über einem Jahr. Und immer noch kommen täglich Boote an. Gemäss Ricker ist die Türkei für niemanden sicher: «Meine Mandantinnen und Mandanten berichten mir, dass es in den türkischen Flüchtlingscamps Wächter gibt, die jeden Tag damit drohen, die Geflüchteten in ihr Herkunftsland abzuschieben», sagt sie. «Das ist psychische Folter.»
Unter den Freiwilligen auf Lesbos gilt Ricker als Workaholic. Man erzählt, sie schlafe kaum, und wenn, dann in kleinen Portionen über den Tag verteilt. «Um dieses System zu verstehen, musst du davon besessen sein. Der Asylprozess ist unglaublich unübersichtlich und intransparent», sagt Ricker. Neben ihrer Arbeit sammelt sie Informationen zu den Deportationen: Transportmittel, Anzahl und Nationalität der Deportierten. Meistens nachts, wenn sie wieder mal nicht schlafen kann. «Weil der Deal keine Gesetzesänderung war, gleicht er einem schwarzen Loch: Man sieht ihn nicht, aber man sieht alles, was um ihn herum passiert – zum Beispiel die Deportationen», sagt sie.
Unerwartete Verbündete
Ricker und ihr Team bereiten ihre MandantInnen vor allem auf die Bewerbungsinterviews vor, denn die meisten von ihnen wissen nicht, worauf es dort ankommt. Ausserdem liege eine Kluft zwischen dem Asylprozess, wie ihn die Behörden beschrieben, und dem, was tatsächlich passiere. Seit die Behörden die Interviewprotokolle herausgeben, ist Ricker auch klar, dass viele illegale Interviews geführt und rechtswidrige Entscheidungen gefällt werden. Illegal ist ein Interview etwa dann, wenn Fragen, die für den Fall irrelevant sind, dann trotzdem in die Entscheidung einfliessen.
Manche MandantInnen fragen Ricker, ob sie von der Insel abhauen sollten. Die aussichtslose Situation treibt viele dazu, ohne gültige Papiere nach Athen zu reisen, in der Hoffnung, sich von dort aus alleine durchzuschlagen. Das bringt die Anwältin in ein ethisches Dilemma: Sie muss dem Gesetz treu bleiben und kann nicht zu illegalem Handeln raten. Gleichzeitig weiss sie, wie willkürlich der Asylprozess ist: «Ich kann niemandem davon abraten, vor der Ungerechtigkeit und den Gefahren hier zu fliehen. Aber ich werde allen genau erklären, was das für ihr Asylgesuch bedeutet und was zu tun ist, wenn sie das Festland erreichen.»
Ricker arbeitet mit allen möglichen Kniffen gegen die Ungerechtigkeiten im Asylsystem – und bleibt dabei juristisch unantastbar. Die Fachkenntnisse sind ihre wichtigste Waffe. So kam Ricker auf die Idee, Beschwerde beim griechischen Ombudsmann einzureichen, nachdem eine der AnwältInnen von Advocates Abroad einen fünfzehnjährigen Asylbewerber in einer Polizeiwache auf Samos an einen Stuhl festgebunden vorgefunden hatte. Der Ombudsmann kam einen Tag später auf die Insel; der Junge wurde nach Athen gebracht und erhielt psychologische und medizinische Hilfe. «Das ist das Seltsame hier: Man findet manchmal Verbündete an unerwarteten Orten.»
Doch obwohl sie nach den Regeln spielte und mit ihrer Beschwerde recht bekam, wurde Ricker danach zum ersten Mal verhaftet – offenbar ein Einschüchterungsversuch. Wie sie aus der Situation wieder rauskam? «Ich bin weiss, das macht alles einfacher, wie ich hier gelernt habe.» Angst hatte sie trotzdem.